Logo VVN/BdA NRW

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

30.06.08

Viel zu tun für den organisierten Antifaschismus 

Wir brauchen eine Bewegung für die Demokratie 

Interview mit Ulrich Sander

UZ: Du wurdest erneut zu einem der Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten gewählt. Auf dem 3. Bundeskongress der VVN-BdA wurden Beschlüsse zu den Bereichen gefasst, die auch zu deinen Arbeitsschwerpunkten zählen?

Ulrich Sander: Ja, es geht um die Fortsetzung der mit 175 000 Unterschriften erfolgreichen Verbotskampagne gegen die NPD mit dem Zusatz "Kein Fußbreit den Faschisten", ferner um verstärkte Geschichts- und Erinnerungsarbeit nun unter Einbeziehung der Rolle des Militarismus - wir nennen es Widerherstellung des Konsenses von "Nie wieder Faschismus" mit "Nie wieder Krieg" - sowie um Fortsetzung des Ringens um die Entschädigung der NS-Opfer.

UZ: Das letzte Thema war zuletzt etwas in den Hintergrund getreten. Worum geht es da jetzt?

Ulrich Sander: Dass italienische Gerichte jetzt Deutschland zur Entschädigung der griechischen und italienischen NS-Opfer verpflichteten, das ist ein großer Erfolg. Auch die Zwangsarbeiterentschädigung war völlig unzureichend, da muss die Regierung nachbessern, wie es so schön heißt, vor allem die Konzerne müssen es. Empört mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass die Parteien des Bundestages - ausgenommen "Die Linke" - ausgerechnet am 8. Mai die alten Beschlüsse aus der Zeit des Kalten Krieges bekräftigten, nach denen die wegen des KPD-Verbots von der Entschädigung ausgeschlossenen kommunistischen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer auch weiterhin ihrer Entschädigung beraubt bleiben sollen. Nun soll im Herbst in Dortmund ein Treffen dieser Opfer des Kalten Krieges stattfinden. Denn hier wurden mit die meisten Urteile der politischen Justiz gegen die ehemaligen NS-Opfer gesprochen. Die VVN-BdA unterstützt dieses Treffen.

UZ: Was die Geschichtsarbeit anbelangt, soll die Schaffung einer Ausstellung über die Rolle der rheinisch-westfälischen Industrie später zu einer Gesamtdokumentation führen. Die Vorbereitung einer solchen Ausstellung auf Bundesebene wurde beschlossen?

Ulrich Sander: Ja, grundsätzlich gibt es eine Zustimmung. Aber es fehlt noch das Geld dafür. Die Notwendigkeit einer solchen Aktion wird immer klarer. Zum Beispiel spricht der Fall des Friedrich-Flick-Gymnasiums in Kreuztal bei Siegen Bände. Dort war den Schülern bisher nicht bewusst, dass ihre Schule nach einem Kriegsverbrecher benannt ist. Wir haben nun in Dortmund, Köln, Siegen und Duisburg damit begonnen, dafür zu wirken, dass neben den Stolpersteinen für die Opfer auch endlich Mahntafeln über das unselige Wirken der Wirtschaft aufgestellt werden.

UZ: Der Verfassungsschutz greift in seinen Länder- und Bundesberichten immer wieder alle jene an, die an die Schuld des Kapitals und der bürgerlichen Parteien am Faschismus erinnern und nennt sie verfassungsfeindlich. Sie seien bestrebt, die bürgerlich-demokratische Ordnung als Vorstufe zum Faschismus darzustellen. Stimmt diese Behauptung?

Ulrich Sander: Nein, denn erstens behauptet es niemand, dass Kapitalismus immer zum Faschismus führen muss - sonst könnten wir ja gleich einpacken. Und zweitens ist antifaschistischer Antikapitalismus, das heißt das Erinnern an die Rolle des Kapitals in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, sehr mit dem Grundgesetz zu begründen. Man denke nur an den Sozialisierungsartikel, die Unveränderbarkeit der Verfassungsbestimmungen für die demokratische und soziale Republik, an das Verbot der Führung und Vorbereitung des Angriffskrieges, an die Verbindlichkeit des Völkerrechts - das hätten die Schöpfer des Grundgesetzes doch nicht da reingeschrieben, wenn sie nicht Erfahrungen mit dem Kapitalismus und Faschismus zu Grunde gelegt hätten.

UZ: 1968 - neben 1933 das Jahr, an das derzeit besonders erinnert wird, - brachte doch aber auch die Losung "Kapitalismus führt zum Faschismus - Kapitalismus muss weg". Wie steht es damit?

Ulrich Sander: Auf Transparenten stand so etwas und völlig zu recht wurde und wird doch immer gefordert, den Kapitalismus zu überwinden. Seinerzeit wurde aber vor allem eine entschiedene antifaschistische Bewegung gestartet. Die Jugend wollte wissen, was die Väter und Großväter getan haben. Viele junge Menschen kamen in die VVN, denn dort waren die Väter und Mütter, die gegen den Faschismus gekämpft hatten.

UZ: Das Jahr 1968 scheint aber von den Überwindern der RAF, von den Fischers und Cohn-Bendits gepachtet zu sein. Die Bewegung der 68er habe sich Dank ihrer Hilfe von Gewalt ferngehalten, heißt es. Der Kalte Krieg von damals sei Geschichte, und heute bleibt auf dem Gebiet nichts mehr zu tun?

Ulrich Sander: Die Bewegung war keine gewalttätige. Aber ihre "Helden" Cohn-Bendit und Fischer, die sich immer viel darauf zu Gute halten, nicht in den Terrorismus abgeglitten zu sein, betrieben ab 1999 den Staatsterrorismus per Bombardierung Serbiens. Und weiter: Der Kalte Krieg ist Geschichte? Ausgerechnet am 8. Mai gab der Bundestag eine Probe seines Könnens als kollektiver Kalter Krieger ab, ohne dass die großen Medien dies überhaupt wahrgenommen hätten. Es wurde das Unrecht des Kalten Krieges, begangen an kommunistischen Widerstandskämpfern, aufrechterhalten. Damit haben die Grünen eigene Forderungen für die Entschädigung vergessener Opfer schlicht verraten. Es bleibt noch viel zu tun. Die Schulen und Fabriken werden nicht mehr wie Kasernen geführt, sagte kürzlich Cohn-Bendit in der Süddeutschen. Sind wir nicht wieder auf dem Weg dorthin mit Kopfnoten und Pressanstalten mit verkürztem Unterricht sowie mit einem Zustand, den Hilmar Thate 2001 so umschrieb: "Früher durfte man zu seinem Chef sagen ´Du bist ein Arschloch´, aber nicht ´Honecker ist ein Arschloch´. Heute darf man über Schröder sagen, was man will, aber nicht zum Chef, sonst ist man seinen Job los."

UZ: Jetzt wird oft und zurecht auch daran erinnert, dass damals gegen die Notstandsgesetze gekämpft wurde und heute ähnliches wieder erforderlich sei.

Ulrich Sander: Nehmen wir das gewaltige Schnüffelsystem und den Überwachungsstaat, der gegenwärtig ausgebaut wird. Nehmen wir die Telekom-Affäre. Ein wichtiger Aspekt wird ständig übersehen: Aus Bundespostzeiten hat die Telekom noch immer die Aufgabe der technischen Abwicklung des Abhörens bzw. der Beihilfe, um die Resultate den Geheimdiensten und dem Staatsschutz weiterzugeben. Was liegt da näher, den Staatsauftrag auch zum Nutzen des Telekom-Firmenvorstandes in Anspruch zu nehmen? Das Abhören von Telefongesprächen und Anzapfen von Handy und PC ist keinesfalls selten. Die Aufregung entsteht nun dadurch, dass eine Firma wie Telekom dies leistet. Aber das ist doch ihr Job - als technische Hilfe für die Geheimdienste und den Staatsschutz.

UZ: Mit Datenklau und PC-Durchsuchungen hast du ja deine Erfahrungen?

Ulrich Sander: Ja, das geschah sogar mittels altmodischem Durchsuchungsbefehl, den Schäuble ja abschaffen will. Wenn mal ein Amtsrichter gebraucht wird, um einen Hausdurchsuchungsbefehl zur Erlangung von PC und Dateien zu genehmigen, dann ist der auch zur Stelle. Dann legt man ihm - wie in meinem Fall im Jahr 2003 - einen läppischen Vorwand vor: Der Kriegsverbrechen verdächtige Ex-Gebirgsjäger hatten gefälschte Briefe der Staatsanwaltschaft Dortmund erhalten - von wo auch immer, von mir nicht. Und schon unterschrieb der Amtsrichter vom Dienst, und alle meine Dateien wurden für zweiundeinhalbes Jahr beschlagnahmt. Der PC wurde für zwei Tage mitgenommen und kopiert. Manipuliert wurde auch am PC und an der Telefonleitung in unserem Büro bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten in Wuppertal und in der Wohnung. Seitdem können wir Partnern, die sich wundern, dass beim Anruf bei uns nur ein Pfeifgeräusch entsteht, sagen: Dann werden sie ebenfalls abgehört; das Geräusch entsteht durch eine Rückkopplung. Zudem blicken sich Telekom-Mitarbeiter, die wir holen, wenn das Outlook-Express-System nicht funktioniert, vielsagend an und sagen: "Da ist das System überlastet, legen sie doch mal die Telefonhörer auf, wenn sie Online sind." Und das sagen die, obwohl gleichzeitig niemand telefoniert! Ein Unbekannter, offenbar ein V-Mann, hatte uns eine zusätzliche Leitung zukommen lassen, mit der er ständig online war und ist. Zum Glück müssen wir dafür keine Gebühr zahlen, die zahlt der Steuerzahler.

UZ: Der Verfassungsschutz und der Staatsschutz stecken sicherlich dahinter. Doch sie greifen doch auch auf öffentliche Äußerungen zurück.

Ulrich Sander: Ich habe im September in Minden einen Vortrag gehalten und vom "Krieg an der Heimatfront", also dem Bundeswehreinsatz im Innern, und von der millionenfachen Verwendung der Soldatinnen und Soldaten als Reservisten sowie ihre Organisierung in der größten rechtsextremen Bewegung gesprochen, wie ich sie nannte, und zwar bezogen auf den Reservistenverband und den Bundeswehrverband. Dieses Referat wurde auch in der UZ abgedruckt. Die Verfassungsschutzbehörden in den Unionsländern verbreiteten daraufhin Meldungen, ich sei ein Hetzredner gegen die Bundeswehr. Doch die Tatsache, dass Neonazis - wie ihre Väter - in die Bundeswehr drängen und später in die Reservistenorganisationen, und dass bis heute nicht ein einziger Nazi-Reservist aus den Verbänden ausgeschlossen wurde, nicht mal der NPD-Führer Udo Voigt, die wurde nun durch TV-Kontraste bestätigt.

UZ: Und all die Maßnahmen werden mit der Gefahr des Terrorismus begründet.

Ulrich Sander: Nicht zu übersehen ist, dass die Bundeswehr-Ausbildung unter Kampf gegen Terrorismus auch Vorgehen gegen Globalisierungsgegner und andere Chaosgruppen versteht, wie der hauseigenen Literatur zu entnehmen ist. Die Medien helfen beim Abbau der Demokratie. Ihre reißerische Terrorismus-Berichterstattung etwa über den Fall, da Bombenattrappen in nordrhein-westfälischen Regionalzügen und im Sauerland gefunden wurden, helfen den Schäubles und Jungs. Damit sollen wir offenbar auf weitere Kriege und einen weiteren Abbau von Bürgerrechten eingestimmt werden. Die allgegenwärtige Videoüberwachung hat gewirkt, sagt man uns, nun fehlt noch die Online-Fahndung, sagen die Polizei- und Geheimdienstchefs. Die Online-Fahndung soll ebenfalls verdachtsunabhängig erfolgen. Nicht Personen, gegen die ermittelt wird, sondern denkbare "Gefährder", "Schläfer" und "Islamisten" werden durch illegales Eindringen in ihren PC und auch in ihre Wohnungen überwacht. Als man bei uns 2003 die VVN-Computer durchsuchte bzw. beschlagnahmte, geschah das noch unter einem Vorwand, wie ich schon sagte, künftig braucht es nur noch die Behauptung der Geheimdienste oder irgendeine Denunziation - und schon werden wir ausgespäht.

UZ: Was ist die Hauptaufgabe der VVN-BdA aus Deiner Sicht - neben der Fortsetzung der Kampagne gegen die NPD?

Ulrich Sander: Mitzuhelfen, dass in den außerparlamentarischen Bewegungen - den globalisierungskritischen, der Friedensbewegung, der Sozialbewegung - auch eine breite Strömung für Demokratie entsteht, für die Grundrechte, gegen Militarismus.

UZ: Und was hat sich die VVN-BdA zur Hilfe für die NS-Opfer vorgenommen?

Ulrich Sander: Einzutreten für die Entschädigung der immer noch "vergessenen" Opfer wie: Sowjetische und italienische Kriegsgefangene, italienische Militärinternierte, griechische NS-Opfer, von Entschädigung ausgeschlossene Kommunistinnen und Kommunisten. Die Verweigerung der Entschädigung für große Teile der Überlebenden des Arbeiterwiderstandes verweist uns auch auf die Rolle der Angehörigen der NS-Opfer, die bis heute unter dem Geschehen leiden. Die Angehörigen beispielsweise der linken politischen Widerstandskämpfer waren nach Aussagen der Koalitionssprecher ausgerechnet am 8. Mai Angehörige von Verbrechern, mit all den Folgen, die das für die Psyche hat. Auch die Kinder anderer Opfergruppen sind betroffen. In Israel wurde die Forderung erhoben, auch die Kinder von Überlebenden gesundheitlich zu betreuen. Es geht um die zweite und dritte Generation. Davon gibt es sicherlich auch viele unter den UZ-Leserinnen und -Lesern. Vielleicht machen die ja auch in der VVN-BdA mit?

Das Gespräch führte Nina Hager

aus: Unsere Zeit v. 20. Juni 2008