08.06.08
Schlagartig wurde das ganze Dilemma deutlich
Von der Schuld des
V-Leute-Systems
Von Ulrich Sander
Wir waren wieder in Solingen. Wir gedachten der fünf Frauen und
Mädchen, die vor 15 Jahren Opfer eines fürchterlichen
Brandanschlags geworden sind. Wir zogen mit einem Protestmarsch
durch die Klingenstadt – Protest dagegen, dass nie wirklich
entscheidendes getan wurde, um ein derartig rassistisches Verbrechen
künftig zu verhindern. 120 weitere Menschen sind seitdem an
rassistischer Gewalt gestorben.
Doch es war auch ein Trauerzug. Dieser Zug wurde durch eine
gezielte Provokation seitens einer kleinen Gruppe türkischer
Nationalisten ausgerechnet vor den fünf Kastanienbäumen, die heute
in der Baulücke an der Stelle des Brandes für jedes der Opfer
stehen, aufgehalten. Sie formten die Finger einer Hand zu einem
Wolfskopf, das Zeichen der nationalistischen türkischen Vereinigung
der ‚Grauen Wölfe’. „Nach kurzer Rangelei von den linken
Demonstranten in die Flucht geschlagen“, schrieb dazu die
Rheinische Post.
Schlagartig wurde das ganze Dilemma deutlich. Die faschistischen
„Grauen Wölfe“ werden als Organisation hierzulande ebenso
geduldet wie die NPD und andere. Wie sie sind sie mittels eines
V-Leute-Systems eng mit dem Staat verbunden. Der Historiker Stefan
Stracke berichtete über das System des „tiefen Staates“ in der
Türkei, das mit V-Leuten aus Militär und Polizei sowie
Gemeindiensten verbrecherisch operiert, sich faschistische Gruppen
wie die Grauen Wölfe zunutze macht. Auch in Solingen haben V-Leute
operiert und mit einer Kampfsportschule die rassistischen jungen
Mörder trainiert. „Betriebsunfall“ des Staatsschutzes nannte
man den Brandanschlag später. Das V-Leutesystem blieb erhalten –
bis heute.
Und so konnte auch die NPD in diesen Tagen ungestört von
Eingriffen der Regierungspolitik ihren Parteitag abhalten. Das war
ein Parteitag des großen Augenzwinkerns: Der wiedergewählte
Parteiführer kritisierte „gewalttätige Wählerschrecks“, und
gleichzeitig wurden dessen Anführer wieder in den Vorstand
gewählt. Jürgen Rieger, Anführer der höchst gewalttätigen NPD
von Hamburg – man denke an den 1. Mai 2008 – und Exponent des
Nazi-Finanzsystems mit immer sprudelnden Quellen, wurde gar
Stellvertreter des Führers Udo Voigt.
Auch Innenminister Wolfgang Schäuble war in Solingen. Natürlich
verlor er in seiner Gedenkrede kein Wort über das mörderische
V-Leutesystem, nannte nicht die Neonazis beim Namen, kennt nur den
Begriff „Extremisten“. Er warb für den Überwachungsstaat, der
gleichzeitig Nazis gewähren lässt: Ohne Sicherheit mittels „Polizeipräsenz“
und „allen Mitteln der technischen Kontrolle“ gäbe es keine
Freiheit.
So bleibt nur der Aufruf von Verdi-Regionalvorsitzendem Wolfgang
Zimmermann als Lösung für uns übrig: Auf die Straße gehen, die
Menschen mobilisieren, bis die rechte Gewalt eingedämmt ist, und
dafür sei auch das NPD-Verbot ein Schritt in die richtige Richtung.
erschienen in Unsere Zeit vom 6.6.08
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