Logo VVN/BdA NRW

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

15.04.08

Die Ausnahmen für die NS-Verbrecher

Eine Untersuchung von Günter Wallraff

Dokumentiert aus: Die Tat, Nr. 44 vom 4. November 1967, Seite 16

Wer in der Bundesrepublik zu hohen Haftstrafen verurteilt wird, muß damit rechnen, daß er mindestens zwei Drittel der Zeit abzusitzen hat. Das gilt für alle Rechtsbrecher, sowohl für Diebe und Erpresser als auch für Totschläger und Mörder, denn vor dem Gesetz sind alle gleich. Wer aber in der Bundesrepublik, wegen in der NS-Zeit begangener Verbrechen verurteilt wird, kann sicher sein, daß für ihn die normale Strafpraxis nicht gilt. Meist ist er schon nach kürzester Zeit wieder in Freiheit. Dafür stehen 17 Beispiele.

Ein Lebenslänglicher wunderte sich

Günter Wallraff sprach mit einem geachteten Mann

Ferdinand G., der nach der Dokumentation des Bundesjustizministeriums "KZ-Morde im Lager Bornhagen" begangen hat und "an Massenvernichtungsaktionen gegen jüdische Häftlinge beteiligt" war, wofür er zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt, worden ist, lebt heute, in einem kleinen Ort in der Nähe von Mannheim. Ich besuchte ihn.

Das Haus von G. liegt an der Hauptstraße des Dorfes. Umgeben von einem gepflegten Garten. Eine jüngere Frau öffnet die Tür. "Sie kommen wegen der Versicherung? Einen Augenblick, ich rufe meinen Vater." Ein alter Mann erscheint auf dem Treppenabsatz des 1. Stocks und blickt zu mir herab. "Ich komme nicht wegen der Versicherung", sage ich, "kann ich Sie einmal kurz sprechen?"

"In welcher Angelegenheit?", fragt er.

"Es ist wegen damals", sage ich, "ich möchte gern aus Ihrer Sicht etwas darüber erfahren." Die junge Frau ist erschrocken. Ich nenne meinen Namen und stelle mich als Journalist vor.

Herr G. zeigt zur Tür: "Was wollen Sie von mir? Wie sind Sie an meine Adresse gekommen? Was rühren Sie an Dinge die längst vergessen sind? Lassen Sie mir gefälligst meine Ruhe." Er geht zum Fenster.

"Machen Sie es kurz", sagt er, "was wollen Sie von mir wissen? Ich habe nichts zu verbergen."

Er zündet sich eine Zigarre an, sieht zum Fenster hinaus, während ich Fragen stelle.

Er bekommt seine Rente. Es geht ihm nicht schlecht. Er geht viel spazieren. Die Gegend hier hat ihren landschaftlichen Reiz. Er hat seine Bekannten im Dorf. Er geht auch gelegentlich zum Stammtisch. Er ist angesehen, in seinem Bekanntenkreis. "Die Sache damals? Ob die davon wissen? Ich will Ihnen sagen, das weiß ich nicht und ist mir auch egal. Und wenn sie es wissen, dann kümmern sie sich jedenfalls nicht drum."

Vorzeitige Entlassung

"Da sind die Herren vom Ministerium gekommen, der Staatsanwalt und noch einer von der Zuchthausverwaltung Hohenasperg. Die Leute haben gesagt, es ist genug, Sie können sich fertig machen, Sie sind entlassen. Da bin ich Knall und Fall innerhalb einer Stunde entlassen worden. Als Lebenslänglicher, ohne daß die Strafe vorher herabgesetzt worden wäre. Und dann ist mir noch gesagt worden von den feinen Herren: Wir raten Ihnen, unternehmen Sie nichts mehr gegen den Prozeß. Mein Anwalt aus München, der im Nürnberger Prozeß auch Verteidiger war, und später den Krupp auch vertreten hat, hat mir dasselbe gesagt...

Ich meine, ich trag' keinem Menschen was nach. Ich sag' mir, ich habe fast 10 Jahre gebüßt. Ich weiß nicht, für was, weiß auch nicht, warum, ich kümmere mich auch nicht drum... Ich weiß überhaupt nicht, wie ich, in die Sache hineingeschlittert bin."

Der "Vater der Juden"

"Die Juden haben gegen mich ausgesagt. Mit meinem Prozeß kann ich es mir nur so erklären, daß die Zeugen das nachher so gedreht haben, um da Geld 'rauszuschlagen. Ich hatte, mit den Sachen im Lager nichts zu tun. Ich war im Landratsamt und für die Betreuung der Juden zuständig. Seinerzeit ist die SS gekommen, damit hatte ich nichts zu tun."

Sie waren aber der Verwalter? "Ich hab' nur die Sache insofern unter mir gehabt, die Leute brauchten Lebensmittel. Die Juden waren überhaupt nicht bewacht, die haben sich selbst bewacht. Ich bin nur 'rausgekommen ins Lager wegen der Lebensmittel. Da war seinerzeit mal 'ne Misere gewesen. Da war kein Mehl da. Da bin ich hingegangen und hab' ihnen Mehl besorgt. Erst als später, nach dem Zusammenbruch, das Lager aufgelöst wurde, stellte ich fest, daß 'ne ganze Menge Leute fehlten... Ich bin so weit, daß ich mir sage, ich habe keinem Menschen was angetan, da ist die Sache erledigt ... ich bin zufrieden. Daß meine Nerven natürlich nicht mehr das sind, was sie waren, ist klar... Ich war lediglich in der Partei, war Ehrenzeichenträger. Ich weiß nur das eine, ich habe viel Gutes für die Juden getan. Vor Gericht haben die ehemaligen Kollegen vom Landratsamt auch ausgesagt, ich wär' der Vater der Juden gewesen."

Warum hat keiner der Juden für Sie ausgesagt?

"Ach wo. Was weiß ich. Ich hab' einem mal auf die Ohren gehauen. Wenn ich ihn angezeigt hätte, wär' er erschossen worden."

Was hatte er gemacht?

"Ach was, weiß nicht mehr, wenn ich ihn angezeigt hätte, wär' er aufgehängt worden ... Mich hat's insofern getroffen, als ich einer der ersten war, die vor Gericht gekommen sind. Heute wär' ich wahrscheinlich freigesprochen worden."

Und nachher stellten Sie fest, daß Juden vergast wurden.

"Naja, wenn die SS hinkommt, dann hab' ich das arrangieren müssen, mit noch einem. Dann haben wir sie 'rausgeführt. Ich wußte aber nicht, was los war...

"Ich schlaf' so gut wie vorher"

Ich bin mißtrauisch geworden, und wenn an meinem Stammtisch über Politik gesprochen wird, dann steh' ich auf und geh, wieder. Ich will nichts mehr wissen. nichts mehr hören. Ich frage mich manchmal, was denn heute anders ist als damals. Die tun doch alle nichts als ihre Pflicht. Ich weiß nur das eine, und das ist für mich eine Genugtuung, ich bin mir vollkommen bewußt, daß ich keinen Menschen umgebracht habe, keinem was zuleide getan habe. Ich war nur Verwalter und kam nur ins Lager, um. nach dem Rechten zu sehen. Ich schlaf' so gut wie vorher."

Die Schrift hat den Titel "Die Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland seit 1945", ist herausgegeben vom Bundesjustizministerium und soll, da "von verschiedener Seite an der Rechtsprechung deutscher Gerichte Kritik geübt" wurde, das Vertrauen des Bürgers in die deutsche Justiz wiederherstellen.

Und 250 gegen NS-Verbrecher ausgesprochene und in der Schrift zitierte Gerichtsurteile scheinen in der Tat überzeugend zu belegen daß wahr ist, was das Ministerium behauptet: "daß ... die nationalsozialistischen Verbrechen bereits seit 1945 mit Nachdruck verfolgt wurden".

Aber die Dokumentation hat einen Schönheitsfehler. Sie verschweigt, daß die Urteile für NS-Straftäter, im Gegensatz zu den Urteilen für andere Straftäter, keineswegs bindend sind. Bei der Überprüfung von nur 38 der 250 in der Dokumentation des Justizministerium genannten Fälle hat sich herausgestellt, daß nur 19 Verurteilte noch in Haft sitzen. 19 sind längst wieder in Freiheit. Denn die deutsche Justiz macht mit ihren NS-Verbrechern kurzen Prozeß: Sie entläßt sie.

Wie lange ist lebenslänglich?

Fall 1: Dr. W. Schmidt wird 1947 wegen Tötung von Geisteskranken in der Heilanstalt Eichberg in Frankfurt zum Tode verurteilt. Die Strafe wird in lebenslänglich Zuchthaus umgewandelt. 1953, sechs Jahre später, ist für Dr. Sch. die lebenslängliche Strafe beendet.

Fall 2: Herm. Schepp erschoß 1933 als HJ-Führer einen Kommunisten. Schepp wird 1946 in Frankfurt zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt. 1955, neun Jahre später, wird er entlassen.

Fall 3: Dr. H. Gorgass war an der Tötung von über 1000 Geisteskranken maßgeblich beteiligt. 1948 wird er in Frankfurt zum Tode verurteilt. Das Urteil wird nicht vollstreckt. 1958, zehn Jahre später, wird er begnadigt. - Dazu die Notiz in einer West-Berliner Zeitung: "Dr. Hans G., der 1000fache Giftgasmörder von Hadamar, der im vorigen Jahr durch einen Gnadenerlaß des hessischen Justizministers wegen seiner angeblich schweren Leiden aus der Haft entlassen wurde, steuert seit Monaten einen eigenen Wagen, hat eine gute Stellung in einem Betrieb der pharmazeutischen Industrie und wohnt in G. bei B. Seine Opfer liegen auf dem Frankfurter Friedhof."

Fall 4: Ad. Wahlmann tötete mindestens 900 Insassen der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar durch Gift. In Frankfurt wurde er zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde nicht vollstreckt. Sechs Jahre später ist er wieder frei.

Fall 5: H. Oppenländer erschoß in Schwäbisch Gmünd zwei Männer, die am 13.4.1945 in angetrunkenem Zustand "Hitler verrecke" und "Es lebe Stauffenberg" gerufen hatten. Der damalige NSDAP-Kreisleiter Oppenländer machte kurzen Prozeß: ohne gerichtliches Verfahren erschoß er die beiden "Wehrkraftzersetzer". 12 Jahre Zuchthaus lautete das Urteil des Landgerichtes Ellwangen. Knapp ein Drittel seiner Strafe sitzt O. ab, dann wird er 1951, begnadigt. Ein paar Jahre später stellt ihn das baden-württembergische Kultusministerium in den Schuldienst ein. O. wird Rektor an einer Dorfschule, knapp 30 Kilometer von dem Ort entfernt, wo er 1945, kurz vor der endgültigen Kapitulation, die beiden Männer erschossen hat. Als O.'s Vergangenheit in der Öffentlichkeit bekannt wird, muß das Kultusministerium den Rektor aus dem Schuldienst entlassen.

Morde an Juden

Fall 6: Ferd. Göhler hat an KZ-Morden, Massenvernichtungsaktionen gegen jüdische Häftlinge, teilgenommen. 1950 wird er in Stuttgart zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt. Zehn Jahre später wird er entlassen.

Fall 7. F. R. Schwede-Coburg, ehemaliger NS-Gauleiter , wird in Coburg schuldig gesprochen wegen zahlreicher schwerer Mißhandlungen von Schutzhäftlingen, wegen Erpressung von Geständnissen und wegen Freiheitsberaubung. Die Strafe ist zehn Jahre Gefängnis. 1955, vier Jahre nach der Verurteilung, sind für Franz Reinhold Sch. die zehn Jahre Gefängnis vorbei. Er wird entlassen.

Fall 8: Ad. Rübe wird in Karlsruhe schuldig gesprochen wegen Massenvernichtungen von Juden im Raum Minsk. Er wird zu lebenslänglich und zusätzlich 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Von den 15 Jahren sitzt er dreizehn ab, das Lebenslänglich wird ihm geschenkt. 1962 wird er entlassen.

Fall 9: D. Klages, nationalsozialistischer Ministerpräsident von Braunschweig, wird wegen schwerer Freiheitsberaubungen und Mißhandlungen von Gegnern des Nationalsozialismus in Braunschweig zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt. Die Strafe wird zu 15 Jahren Zuchthaus umgewandelt. Nach elf Jahren wird K. entlassen.

Fall 10: F. Hildebrand, an Judenverfolgungsaktionen beteiligt. Eigenhändige Erschießung von fünf Juden können ihm außerdem nachgewiesen werden. Er bekommt in Bremen acht Jahre Zuchthaus dafür. Zwei Jahre sitzt er ab. Der Rest wird ihm geschenkt.

Fall 11: P. Hoppe ordnete die Erschießung, Erhängung und Vergasung von KZ-Häftlingen an. In Bochum wird er zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach drei Jahren Ist er wieder frei.

... und Gefangenen

Fall 12: Gg. Mott mißhandelte, erschoß und erhängte Gefangene. Er befahl Untergebenen, das gleiche zu tun. Dafür bekommt er in Hechingen Lebenslänglich. Sieben Jahre verbringt er in Haft, dann wird er begnadigt.

Fall 13: W. Hammer gehörte zur Einsatzgruppe Tilsit. Seine Aufgabe war, Juden zu töten. Wegen Beteiligung an Massenerschießungen wird er in Ulm verurteilt. In der Dokumentation steht, er habe 15 Jahre Zuchthaus dafür bekommen. Das stimmt nicht. Tatsächlich lautete das Urteil nur auf drei Jahre Zuchthaus.

Fall 14: F. Feucht erschoß 27 rumänische Kriegsgefangene, weil sie Lebensmittel entwendet hatten. F. bekommt in Memmingen zur Strafe neun Jahre Zuchthaus. Nach vier Jahren wird er entlassen.

Fall 15: P. Lukys gehörte zur Einsatzgruppe Tilsit. Nach Angaben der Dokumentation soll, er wegen Beteiligung an Massenerschießungen von Juden in Ulm zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden sein. Tatsächlich lautete das Urteil auf fünf Jahre Zuchthaus.

Fall 16: A. Gorberg mißhandelte eine im KZ inhaftierte Jüdin so schwer, daß sie daran starb. Zwölf Jahre soll er dafür ins Zuchthaus. Aber er kommt nach der Urteilsverkündigung in Wuppertal sofort wieder frei.

Fall 17: Wilh. Gerke erschoß bei Kriegsausbruch im litauischen Grenzgebiet Juden und Kommunisten. Er wird in Dortmund zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, braucht sie aber nicht ganz abzusitzen. Das Urteil wird am 5.2.1963 im Landgericht Dortmund verkündet, knapp drei Monate später, am 24.4.1963, wird G. auf freien Fuß gesetzt.

Entlassungen "unter der Hand"

In der Regel halt die deutsche Justiz zwei Möglichkeiten, um die Bevorzugung von NS-Verbrechern gegenüber anderen Verbrechern zumindest formal zu rechtfertigen. Zum einen kann ein Straftäter auf Grund eines Gnadenerlasses, zum anderen auf Grund seines angegriffenen Gesundheitszustandes in Freiheit gesetzt werden.

In Baden-Württemberg mußte sich der Landtag mit dem Fall des ehemaligen SS-Standartenführers Richardt beschäftigen. Richardt war wegen 45fachen Mor des an polnischen Zivilisten zu zweimal lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden. Nachdem er fünf Monate seiner Strafe abgesessen hatte, wurde er Anfang 1966 wegen "Haftunfähigkeit" entlassen.

Haftunfähigkeit liegt nach § 45 der Strafvollzugsordnung dann vor, wenn der Verurteilte wegen körperlicher oder geistiger Erkrankung "vollzugsuntauglich" ist. Das bedeutet: sein Aufenthalt in der Anstalt muß sein Leben unmittelbar gefährden.

Das schien bei dem ehemaligen SS-Standartenführer der Fall zu sein; der Gerichtsarzt hatte ihm "Arteriosklerose", Kreislaufstörungen und allgemein "Herzgeschichten" bescheinigt.

Richardt würde trotz des zweimal lebenslänglich Zuchthaus noch heute in Freiheit sein, wenn ihn nicht ein Journalist des "Mannheimer Morgen" besucht hätte. Denn statt eines todkranken Mannes traf der Journalist einen sehr rüstigen älteren Herrn an, der ihm erzählte: Viel spazierengehen, zwei bis drei Zigarillos am Tag und ab und zu ein Gläschen Sekt das ist mein Leben.

Die "ach so kranken" Totschläger

In München wurde der ehemalige General der Waffen-SS Sepp Dietrich wegen Beihilfe zum Totschlag in zahlreichen Fällen zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Ein halbes Jahr seiner Strafe verbüßte der General, dann wurde er wegen "schwerer Herz- und Kreislaufstörungen" freigelassen.

In der "Deutschen National- und Soldatenzeitung" stand wenig später, wozu ein schwerkranker Mann noch fähig ist. Dietrich nahm an Kameradschaftstreffen der ehemaligen SS teil und hielt dort Reden.

Zwei weitere Fälle, deren Entlassungen allerdings durch den Druck der Öffentlichkeit rückgängig gemacht werden mußten: Robert Mulka, der ehemalige Lageradjutant von Auschwitz, wurde wegen Beihilfe zum Mord an 3000 Häftlingen zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Wenig später wurde er wegen seines "angegriffenen Gesundheitszustandes" auf freien Fuß gesetzt.

Dr. Otto Bradfisch wurde die gleiche Begünstigung zuteil. Er war 1961 vom Schwurgericht München wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an 15 000 Menschen zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

Die deutsche Justiz wollte, wie gesagt, um Vertrauen werben. NS-Straftäter vertrauen ihr auf jeden Fall.