Logo VVN/BdA NRW

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

27.03.08

Buchpräsentation und neue Recherchen zu Kriegsendverbrechen der Nazis 

Von der Jahrestagung des Internationalen Rombergparkkomitees am 20. März 2008 in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache in Dortmund

Vor drei Jahren waren die Vertreter solcher Städte in Dortmund beim Internationalen Rombergparkkomitee zu Gast, die Opfer von Kriegsendverbrechen zu beklagen haben, wie sie auch im Dortmunder Rombergpark und in der Bittermark verübt wurden. Die Berichte aus diesen Orten wurden nun zusammengefasst und mit Berichten aus weiteren Städten vereint in dem Buch "Mörderisches Finale - NS-Kriegsverbrechen bei Kriegsende". Das Buch wurde zu diesem Karfreitag der Öffentlichkeit übergeben. Es handelt von den groß angelegten Mordfeldzügen der Nazis noch in den letzten Kriegstagen. Neben örtlichen Amokläufen handelte es sich dabei um Nachkriegsplanungen zur Verhinderung eines antifaschistischen Neubeginns. Das Buch stellt die erste Gesamtdarstellung dieser Vorgänge dar. (Ulrich Sander "Mörderisches Finale", 192 Seiten, Eur 14,90) 

Bereits bei der Buchpräsentation mussten wir feststellen, dass mit der Herausgabe von "Mörderisches Finale" die Arbeit an diesem Thema nicht abgeschlossen ist. So wurden uns Massaker am Kriegsende aus Sandbostel und Gandersheim gemeldet, über die wir im Buch noch nicht sehr viel aussagen konnten. Und ein Übertragungsfehler wurde nach Veröffentlichung des Buches deutlich: Alex Uesseler, einer der Ermordeten, war nicht ehemals Stadtratsmitglied in Lünen, sondern in Lüdenscheid.

Neue Mitstreiter des Komitees aus Frankreich und Russland 

Vor allem erhielten wir wichtige Neuigkeiten aus Frankreich und Russland. Frederic Scamps aus Hyeres/Frankreich, hat uns geschrieben und uns um Auskünfte über seinen Großvater Léon CHADIRAC gebeten, der im Frühjahr 1945 in Lippstadt Zwangsarbeit verrichten musste und dann in der Bittermark/Rombergpark ermordet wurde. Später kündigte Frederic Scamps an, dass seine Mutter und ein Cousin zum Karfreitag nach Dortmund kommen werden, um das Grab seines Großvaters in der Bittermark zu besuchen. Und sie kamen. Frau Brigitte Scamps. Sie dankte für die Hilfe des Internationalen Rombergparkkomitees bei der Beschaffung von Informationen über ihren Vater. "Einige meiner Mitbürger waren 1945 so boshaft, und die Geschehnisse waren allen so unklar, dass meine Mutter sich damals in Schweigen gehüllt hat." Leon Chadirac, das wisse sie nun, habe "den Kopf oben behalten und gehandelt, während andere den Kopf hängen ließen und nichts taten." Er habe "immer sein Bestes mit Großmut und Menschlichkeit gegeben. Dieses Engagement hat er sehr teuer bezahlt. Seine Enkelkinder können stolz auf ihn sein, und er wird ihnen als Vorbild dienen. Sein Beispiel zeigt, dass man auch im Kleinen dem Frieden dienen kann." 

Erstmals seit langer Zeit ist auch das Russische Komitee der Kriegsveteranen wieder mit einem Delegierten hier vertreten, und zwar mit Wladimir Gall. Er hat 1945 an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus teilgenommen; unvergessen ist seine Befreiungstat an der Spandauer Zitatelle, die er gemeinsam mit dem späteren Filmregisseur Konrad Wolf ("Ich war 19") und einem weiteren Offizier ausführte, um Hunderten Zivilisten das Leben zu retten. Hier haben wir es mit der Verhinderung eines Kriegsendphasenverbrechens zu tun, und der an daran mitwirkte, ist nunmehr mit 89 Jahren Mitglied des Internationalen Rombergparkkomitees geworden. 

Die Bitte der Verwandten von Leon Chadirac um Recherchehilfen brachte uns auf eine Spur zu einer deutsch-französischen Widerstandsgruppe, die ansatzweise ein gesamteuropäisches Friedenskonzept für die Nachkriegszeit besaß. Dies erfuhren wir aus dem Bundesarchiv in Berlin: Zu den Opfern der Karfreitagmorde gehörten auch die deutschen Arbeiter Fritz Sprink, Franz Engelhardt, Stefan Freitag, Albert Klar und ihre französischen Kollegen, die Zwangsarbeiter Robert Vanderyssen, Robert Deyredk und der schon genannte Leon Chadirac. Und sie alle gehören zu den rund 350 Ermordeten aus der Bittermark und dem Rombergpark vom Frühjahr 1945. Sie unterschieden sich von den anderen Opfern dadurch, dass gegen sie eine Anklage vor dem Volksgerichtshof in Berlin erhoben worden ist. Die Anklageschrift stammt vom 22. März 1945; an diesem Tag waren die angeklagten Arbeiter aus Lippstadt noch in Herne in Untersuchungshaft. Danach wurden sie nach Dortmund gebracht, ihr genauer Todestag ist nicht bekannt. 

Die Entdeckung einer deutsch-französischen Widerstandsgruppe 

Die Anklageschrift des "Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof" wurde jetzt von uns im Bundesarchiv entdeckt (Aktenzeichen 9 J 29/45 Bez. 6), nachdem bereits Lore Junge in ihrem Buch "Mit Stacheldraht gefesselt" aus DDR-Quellen aus der Anklageschrift zitiert hat. 

Über den 1911 geborenen Kasselschmied Leon Chadirac aus St. Amand-les-Eaux heißt es in der jetzt aufgefundenen Anklageschrift, er sei im Mai 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und nach "verschiedenartiger anderer Verwendung" im Mai 1942 der Firma Westfälische Union AG in Lippstadt zugeteilt worden. In Frankreich habe er während der Volksfrontregierung Leon Blum sozialistische und kommunistische Versammlungen besucht. In Lippstadt hätten die Angeklagten sich auf der Grundlage "feindlicher Hetzsendungen" politisch abgestimmt, der "Grundton der Gespräche war kommunistisch". 

Die Gruppe wurde "der Feindbegünstigung und der Vorbereitung zum Hochverrat, der Wehrkraftzersetzung und des Rundfunkverbrechens" angeklagt; zu einem Verfahren kam es nicht mehr. Im Falle von Leon Chadirac wurde die Anklage von der Berliner Reichsanwaltschaft und von der Gestapo Dortmund so begründet: "Der Angeschuldigte Chadirac beschäftigte sich im Gespräch mit den Verhältnissen der deutschen und französischen Arbeiter und wünschte für sie den Kommunismus herbei. Er trat für ein Pan-Europa mit Einschluß Sowjetrußlands ein. (...) Die von den Angeschuldigten gebildete Gruppe wurde im Werk allgemein als Unruheherd empfunden, von dem alle möglichen alarmierenden Gerüchte ausgingen. (...) Als Urheber der Gerüchte galt vornehmlich der Angeschuldigte Sprink. Die Mitangeschuldigten Vanderyssen und Chadirac beteiligten sich aber ebenfalls an der Verbreitung der feindlichen Nachrichten." Die Anklageschrift lässt den Schluß zu, dass die deutsch-französische Widerstandsgruppe eine politische Plattform hatte und sie auch mit Flugzetteln -die Anklageschrift spricht vom "Hetzgedicht" - an die Kollegen herantraten.

Schon lange sind wir dabei, neben den Opfern die Täter zu benennen, so die Täter aus der Gestapo und SS: Im November 1995 hatten wir Recherchen des Kriminalhistorikers und ehemaligen Kriminalkommissars Alexander Primavesi (siehe Neues Deutschland 23. 10. 95) veröffentlicht. Dieser hatte herausgefunden: "Allein sieben hohe Funktionäre aus dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin wurden nach 1945 bei der Dortmunder Polizei angestellt, darunter der Chefermittler im Führerhauptquartier gegen die Männer des 20. Juli 1944, Dr. Bernhard Wehner." Der stellvertretende Leiter der Dortmunder Kriminalpolizei in den 50er Jahren, Dr. Rudolf Braschwitz, sei im Reichssicherheitshauptamt für das Referat "Bekämpfung des Kommunismus" tätig gewesen. "Leiter der Kriminalpolizei wurde der einstige Dortmunder Polizeioberst Stöwe, dem versuchter Mord an 30.000 Menschen vorgeworfen worden ist." Im Zuge der Kriegsendphasenverbrechen wollten Gauleiter Albert Hoffmann und Polizeioberst Stöwe 1945 Tausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Bergwerken ertränken, was verhindert wurde.

Angesichts der Platzierung von Nazis in allen Ämtern in jener Zeit wundert es nicht, einen solchen Brief in dem Archiv der VVN zu finden, mit dem die Stadt Dortmund der VVN Dortmund am 12. September 1952 eine Gedenkfeier vor dem Forsthaus im Rombergpark zu "Ehren der Opfer der blutigen Karfreitags 1945" mit den Auflagen genehmigte, keinen geschlossenen An- und Abmarsch vorzunehmen, auf das Zeigen von FDJ-Emblemen zu verzichten, keine "hoch- und landesverräterischen" Inhalte zu zeigen, in Reden nicht gegen Gesetze zu verstoßen, in Straßen keine Zettel zu kleben - und dies alles gemäß Kontrollratsgesetz, Grundgesetz und "§1 Abs. 2 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4.2.1933". Diese Verordnung vom 4. Februar 1933 jährte sich in diesen Tagen zum 75. Mal. Es war der erste Terrorbefehl Hitlers, der da 1952 von den Behörden angewendet wurde.

Suche nach den Tätern

Zu den Tätern gehören nicht nur Juristen und Polizisten. Am 30. Januar 1997 veranstaltete die VVN-BdA Informationstreffen aus Anlaß des Jahrestages der Machtübertragung an Hitler. Sie belegte die Tatsache, dass 1933 auch Dortmunder Industrielle an der Machtübertragung mitwirkten und später von der Rüstung, dem Krieg und der Ausbeutung von Zwangsarbeitern profitierten. Deshalb forderten wir, die Springorum-Straße in Paul-Mainusch-Straße umzubenennen. An dieser Thematik sind wir drangeblieben. Am 7. Januar 2008 erklärten nun Mitglieder der VVN-BdA und des IRPK bei einer Mahnwache vorm Gelände der ehemaligen Springorum-Villa: "Hier, im Haus des Fabrikanten und Hoesch-Stahlkonzernchefs Friedrich Springorum in der Dortmunder Hainallee trafen sich am 7. Januar 1933 Franz von Papen und führende Ruhr-Industriellen, um über eine Regierungsbildung aus Nationalsozialisten und Rechtskonservativen zu beraten. In einem Gespräch wurde die Weichenstellung für Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 erörtert und die Voraussetzungen für die menschenverachtende Diktatur der Nationalsozialisten geschaffen. Franz von Papen kam von einem Treffen mit dem Privatbankier Kurt von Schröder und dem NS-Führer Adolf Hitler in Köln. Viele Ruhrindustrielle unterstützten bereits vor 1933 die Ziele des Nationalsozialismus und organisierten nach 1933 finanzielle Leistungen der deutschen Wirtschaft an die SS." Gefordert wurde, die Stadt solle ein Schild anbringen, auf dem über das Geschehen vom Januar 1933 berichtet wird.

Seit vielen Jahren weisen wir in Aktionen darauf hin, dass Tausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Dortmunder Betrieben, vor allem den Zechen und Stahlwerken, im Krieg Sklavenarbeit leisten mussten. Wir treten für ihre Entschädigung ein. Die VVN-BdA fordert Denkmalschutz für das Lagergelände des ehemaligen Auffanglagers der Stahlindustrie und der Gestapo an der Hermannstr./Hoesch-Emschertor in Hörde. Von hier sind 1945 viele Opfer zur Erschießung in die Bittermark gebracht worden, darunter zwei Essener Jüdinnen und viele Russinnen. Wir bekamen die Zusicherung, dass ein Gedenkort an der Hermannstr. auch dann entsteht, wenn dort der Phoenix-See geflutet wird. Wir werden aufpassen müssen, dass es geschieht. Vor einem Jahr wurde erreicht, dass vor der Westfalenhalle ein Gedenkstein errichtet wurde, der an die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen erinnert, die im Stalag VI D in der Westfalenhalle und ihrer Umgebung eingekerkert waren. 

Die Verbindung zu Frankreich, die neu entsteht, freut uns sehr. Am 25.2.08 lasen wir in der Westfälischen Rundschau, dass Ministerpräsident Jürgen Rüttgers in Frankreich weilte, um in Mont Valerien die Kämpfer der Rèsistance zu ehren. Anwesend war auch Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Dieser setzte damit die Ehrungen für die Widerstandskämpfer fort. So die Ehrung für den 1941 erschossenen französischen jungen Kommunisten und antifaschistische Widerstandskämpfer Guy Móquet. In seinem Abschiedsbrief hat er geschrieben: "17 ½ Jahre, mein Leben ist kurz gewesen, aber ich bereue nichts, außer, dass ich Euch verlassen muß." Präsident Nicolas Sarkozy hat, nachdem ihm eine Schülerin diesen Brief vorgelesen hatte, angeordnet, dass der Brief des jungen Guy Móquet jedes Jahr in allen Schulen bei Schuljahresbeginn vorgelesen wird. Etwas Vergleichbares hat es in unserem Land nicht gegeben. Aber vielleicht ergibt sich etwas aus dem Israel-Besuch der Bundeskanzlerin? 

Am 18. März 2008 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel immerhin in der Knesset in Tel Aviv laut "Süddeutscher Zeitung" ausgeführt: Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürften in Deutschland und in Europa "nie wieder Fuß fassen". Es sei ihr daher auch ein wichtiges Anliegen, das Bewusstsein für eine Erinnerungskultur zu wecken, die auch dann noch trage, wenn keine Holocaust-Opfer mehr leben. Sie verneige sich vor den Opfern.

Gesucht: Verantwortliche für Verbrechen der Wirtschaft in der Nazizeit

Inzwischen hat die VVN-BdA - nach der Herausgabe von "Mörderisches Finale" - ein weiteres Projekt eingeleitet: "Verbrechen der Wirtschaft 1933 - 1945". Es geht um das Zusammentragen von Berichten aus den Städten, in denen die Täter in Gestalt der Wehrwirtschaftsführer wirkten. Das Zusammentragen geschieht in Form einer Rallye durch NRW. Die Aktion vor dem Grundstück Springorum-Villa am 7. Januar war Teil einer landesweiten Rallye, zu der wir besonders junge Menschen einladen. In der Springorum-Villa haben sich Treffen der Ruhrlade abgespielt, einer halbwegs geheimen Vereinigung von Ruhrindustriellen, die Hitler an die Macht halfen - so bei jenem Treffen am 7.1.1933. Jetzt will die VVN-BdA weitere Berichte über NS-Täter aus dem Bereich der ökonomischen Eliten sammeln.

Alle Antifaschistinnen und Antifaschisten sind zum Mittun aufgerufen.

Ulrich Sander