24.10.07
Lebensunwert? - Lesenswert! Aufwühlend!
Über Zwangspsychiatrisierung
und Zwangssterilisation
Freundeskreis Paul Wulf; VVN BdA, Münster (Hg.)
Lebensunwert?
Paul Wulf und Paul Brune - NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und
Widerstand
208 Seiten, 14,90 EUR ISBN 978-3-939045-05-2
Verlag Graswurzelrevolution
Paul
Wulf und Paul Brune - beide wurden aus rassistischen Gründen im
"Dritten Reich" verfolgt, zwangspsychiatrisiert,
zwangssterilisiert und für "lebensunwert" erklärt. Beide
haben es sich später zur Aufgabe gemacht, darüber aufzuklären und
gleichzeitig um ihre Rehabilitierung zu kämpfen.
Von beiden handelt dieses Buch: Von ihrer Verfolgung, von den
Kontinuitäten nach 45 und ihrem sehr langen Kampf um
Rehabilitierung. Es soll keine wissenschaftliche Abhandlung sein,
sondern "auch etwas von dem Widerstand gegenüber
vorherrschenden Meinungen und Vorurteilen vermitteln", so
Robert Krieg im Vorwort.
Zunächst kommt Paul Wulf selbst zu Wort und beschreibt seine
Geschichte seiner Verfolgung, anschließend beschreibt Robert Krieg
Wulfs langen unermüdlichen Weg seiner Versuche, eine
Rehabilitierung in den 50er und 60er Jahren zu erkämpfen. 350.000
Menschen wurden Opfer der rassistischen Zwangssterilisation des
Naziregimes, Paul Wulf war nur einer von ihnen.
An seinem Beispiel wird aber die Geschichte der Nichtanerkennung
der Zwangssterilisierten als Opfer des NS durch bundesdeutsche
Gerichte deutlich. Zunächst wird ihm eine "nicht vorhersehbare
günstige Spätentwicklung" zugestanden - die damalige Diagnose
könne aber nicht angezweifelt werden (1950). Später wird abermals
das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" als
"in gesetzmäßiger Form zustande gekommen und [noch] gültiges
Recht" dargestellt (OLG Hamm, 1954; man erinnere sich an den
jüngst verstorbenen Nazi-Marine-Richter und späteren
Ministerpräsidenten Filbinger: "Was damals Recht war, kann
heute kein Unrecht sein!"). Paul Wulf († 1999) konnte nie
seine Ansprüche geltend machen, aber durch seine Recherchen, die er
durchführte um seine Rehabilitation weiter zutreiben brachten die
Kontinuitäten zu Tage: Die Verantwortlichen "Erbgesundheitler"
machten wieder Karriere in der bundesdeutschen Justiz und
Psychiatrie.
Auch Paul Brune wurde zwangspsychiatrisiert: Als uneheliches Kind
einer Mutter die nach einem Selbstmordversuch von ihren Verwandten
für geistesgestört erklärt wurde. Das war Grund genug, ihn in die
Mühlen der NS-Psychiatrie geraten zu lassen. Nur seine schulischen
Leistungen haben ihn wohl vor der Vernichtung gerettet. Er wurde bis
in die 50er Jahre psychiatrisiert und eingesperrt. Später
absolvierte er erfolgreich das Germanistikstudium. 2003 wurde er als
einer der wenigen durch den Landtag NRW als Verfolgter des
Nazi-Regimes anerkannt.
Abgerundet wird das Buch durch Gedichte und Texte von Paul Wulf,
Berichten von seinen Freunden und Reproduktionen der vielen
Ausstellungstafeln, die Paul Wulf zum Thema erstellt hatte und mit
denen er in Münster aufklärende Infostände gestaltete.
Nicht zu vergessen sei auch der Artikel zu Otmar von Verschuer,
Lehrer von bekanntem Dr. Mengele. Von Verschuer machte auch nach
1945 eine Bilderbuchkarriere an der medizinischen Fakultät in
Münster - vor den Augen von Paul Wulf.
Einfach informativ, aufwühlend und absolut lesenswert.
Jan Große Nobis
http://www.graswurzel.net/verlag/lebensunwert.shtml
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