02.08.07
Häftlinge beschuldigt
Sachsen-Anhalt: Nach acht Jahren
hartnäckiger Versuche der Geschichtsklitterung mußte Leiter der
Gedenkstätte Isenschnibbe endlich gehen
Ulrich Sander und Wera Richter
Ende vergangener Woche war es soweit: Dr. Herbert Becker wurde
offiziell »von den Aufgaben als Leiter der Mahn- und Gedenkstätte
Isenschnibbe« im sachsen-anhaltinischen Gardelegen entbunden. Das
hat gedauert. Der Mann war dort seit acht Jahren in Personalunion
tätig. In der Zeit hat er es geschafft, ganze zwei Entwürfe für
eine Dauerausstellung in der antifaschistischen Gedenkstätte
vorzulegen. Der erste scheiterte 2004 an dem wütenden Protest von
Historikern und Opferverbänden. Die stellvertretende Leiterin der
Gedenkstättenstiftung des Landes Sachsen-Anhalt, Ute Hoffmann,
befand seine Vorlagen für »inhaltlich und methodisch-didaktisch
nicht tragbar«. Ihr Kollege Jens-Christian Wagner, der Leiter der
Gedenkstätte Mittelbau Dora, sprach von »explizit und subtil
revisionistischem Gedankengut«. Beckers zweite »Konzeption« wurde
schließlich am 23. Juli von der Stadt Gardelegen aus dem Verkehr
gezogen.
Keine Täternamen
Gardelegen war wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs Ort
eines der brutalsten Naziverbrechen. In der Gedenkstätte, die an
das Massaker erinnert, will Becker aber auf die Nennung der
Täternamen verzichten. Dafür will er die Rolle der sogenannten
»Roten Kapos« – Häftlinge, die mit den Nazis kollaboriert haben
sollen – explizit hervorheben.
In der zweiten Aprilwoche 1945 wurden in einer Feldscheune in
Isenschnibben bei Gardelegen über eintausend Zwangsarbeiter – bei
Becker »einige Hundert« – von Faschisten verbrannt. Sie kamen
aus einer 3 000 KZ-Häftlinge umfassenden Gruppe, die von ihren
Bewachern aus dem Harz, aus Hamburg und Hannover auf einem der
sogenannten Todesmärsche durchs Land getrieben wurden, um sie vor
den herannahenden US-Panzertruppen zu verbergen. Über tausend nicht
mehr gehfähige Männer, Frauen und Kinder wurden bei Gardelegen aus
der Kolonne geholt, viele von ihnen totgeprügelt. Die übrigen
wurden von örtlichen NSDAP-Aktivisten ermordet, indem sie in eine
Scheune getrieben und verbrannt oder auf der Flucht erschossen
wurden. Nur einen Tag später rückten die US-Truppen an. Am Rande:
Zwei der Mörder, Walter Biermann und Arno Brake, starben in
sowjetischer Haft und wurden erst kürzlich als »Opfer des
Stalinismus« auf einem Ehrenfriedhof in Halle bestattet.
Der Streit in Gardelegen entzündete sich an der Inschrift an
einer Mauer am Stadtrand des Ortes. Dort steht zu lesen: »Wir
stehen vor den Mauerresten einer Feldscheune, in der sich am 13.
April 1945 eines der grausamsten Verbrechen des Faschismus vollzog.
In der Nacht vor ihrer Befreiung, wenige Stunden vor dem Eintreffen
der alliierten Streitkräfte, wurden hier brutal und unmenschlich
1016 internationale Widerstandskämpfer gegen den Faschismus bei
lebendigem Leibe verbrannt.« Soweit sei diese Inschrift kaum
umstritten gewesen, erklären Antifaschisten aus Sachsen-Anhalt.
Doch folgenden Satz hätten die neuen Geschichtsschreiber um
Gedenkstättenleiter Becker nicht dulden wollen: »Sollte Euch
jemals im Kampf gegen Faschismus und imperialistische Kriegsgefahr
Gleichgültigkeit und Schwäche überkommen, so holt Euch neue Kraft
bei unseren unvergessenen Toten.« Nach langer Auseinandersetzung
blieb der Satz stehen. Aber Becker gab nicht auf: »In seiner
Freizeit«, so sagte er, »betrieb er Recherchen.« Er ermittelte
auch gegen ehemalige Häftlinge, die von ihm nicht namentlich
benannt werden, die er aber dennoch des Mordes an ihren Kameraden
bezichtigt. Er brachte diese Häftlinge, die oft mit dem
klangvoll-abschreckenden Namen »Rote Kapos« belegt werden, sogar
zur Anzeige. Die Justiz wies die Anzeige ab und ermittelte nicht
neu. Aber Becker gab sich mit deren Auskunft – »Da war nichts« -
nicht zufrieden und formulierte für die Tafeln der Gedenkstätte:
»Zahlreiche Freiwillige aus den Reihen der Gefangenen« gehörten
zur mörderischen Wachmannschaft. Er verzichtet darauf, Namen zu
nennen - und zwar, so begründet er, weil sie nicht »nach
rechtsstaatlichen Grundsätzen« verurteilt wurden.
»Unbestimmbare Zahl«
Namen von den faschistischen Mördern will er auch nicht nennen.
Zwar wurden nach dem Krieg von sowjetischen und US-amerikanischen
Behörden viele von ihnen bekannt. Aber nur wenige der Mörder, so
Becker, wurden »rechtskräftig verurteilt«. »Eine Eigenschaft,
die sie, beispielsweise, mit einem gewissen Adolf Hitler teilen«,
bemerkte Die Zeit am 19. Juli treffend. Becker möchte Nazis und
Antinazis als kollektive anonyme Tätergruppen benennen und auf eine
Stufe stellen. Auf seinen Tafeln heißt es: »Unbekannte töteten
eine unbestimmbare Zahl unbewachter Häftlinge.«
Und wie weiter? Gardelegens Bürgermeister Konrad Fuchs
antwortete laut Altmark-Zeitung vom 27. Juli auf die Frage, wer denn
nun für die Mahn- und Gedenkstätte Isenschnibbe zuständig sei,
kurz und knapp »Keiner«. Nun hofft er, daß die wissenschaftliche
Arbeit rund um die Gedenkstätte vom Land übernommen werden
könnte. Eine späte Einsicht, nachdem über Jahre alle Angebote der
Mitarbeit abgeblockt wurden.
Zuerst erschienen in der Jungen
Welt
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