22.07.07
Hoffen auf Zufälle beim Chefankläger
NS-Verbrecher bleiben im Visier
der Ermittler / "Wir haben nicht mehr viel Zeit..."
Dokumentiert aus Siegener Zeitung
vom 27. Juni 2007
dpa Dortmund. Mit seinen Verdächtigen hat der Dortmunder
Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß vor allem ein Problem: Sie sterben ihm
weg. 62 Jahre nach dem Weltkriegsende leben nur noch wenige
mutmaßliche Mörder, die der nordrhein-westfälische Chefankläger
wegen NS-Gewaltverbrechen vor Gericht bringen kann. "Wir
müssen Gas geben, wir haben nicht mehr viel Zeit", sagt er.
Seine bislang letzte Anklage führte er 2003.
Doch Maaß klagt nicht darüber, dass er nicht anklagen kann,
denn zu tun gibt es genug. Derzeit stapeln sich 29 Verfahren bei der
von Maaß geleiteten "Zentralstelle im Lande
Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen
Massenverbrechen", die in die Staatsanwaltschaft Dortmund
eingegliedert ist. Allein 18 Verfahren kamen 2007 hinzu, bei denen
es vor allem um Kriegsverbrechen in Italien geht. Anlass für die
neuen Ermittlungen sind oft Recherchen von Historikern in früher
nicht zugänglichen Archiven der italienischen
Militärstaatsanwaltschaften oder in Osteuropa. Auch die Öffnung
lange unter Verschluss gehaltener Dokumente bedeutete neue Arbeit
für die Ermittler. So gaben etwa 1987 die Vereinten Nationen 30 000
Akten zu mutmaßlichen Kriegsverbrechern frei.
Das Büro des 60-Jährigen gleicht der Geschichtsabteilung einer
Bibliothek - Hintergrundmaterial, um menschenverachtende Verbrechen
aufzuklären und die Täter auch über sechs Jahrzehnte nach
Kriegsende noch zur Verantwortung zu ziehen. Manchmal sind es
allerdings auch Zeugenaussagen, die Maaß aktiv werden lassen. So
wie im vergangenen Jahr im sauerländischen Menden, als auf einem
Friedhof ein Massengrab mit mehr als 100 Toten aus dem Zweiten
Weltkrieg gefunden wurde. Die monatelange Untersuchung ergab jedoch
keinen Hinweis auf gezielte Tötungen der ehemaligen
Krankenhauspatienten.
Maaß untersucht vor allem so genannte Exzesstaten: "Das
sind Taten, die aus Freude am Töten oder auf besonders brutale oder
grausame Weise begangen wurden", berichtet er. "Ziel ist,
die Verbrechen möglichst lückenlos aufzuklären - Vorrangig aus
strafrechtlichen Gründen, aber auch für die
Geschichtswissenschaft. Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht
darauf." Auch den Hinterbliebenen der Opfer bedeute die
Ermittlungsarbeit viel.
Nicht zuletzt habe sie eine Bedeutung für die damals von den
Deutschen besetzten Staaten. "Die Niederländer etwa sind noch
sehr stark interessiert", sagt Maaß, der schon 15 Jahre seines
Berufslebens NS-Verbrechern nachspürt. Insofern, sei seine Arbeit
eine "juristische Tätigkeit mit politischem Anstrich".
Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die deutsche Justiz ist
für die Historikerin Edith Raim vom Institut für Zeitgeschichte in
München "trotz aller berechtigten Kritik eine
Erfolgsgeschichte". "Nie zuvor hat sich eine Nation so
lange mit solchen Verbrechen auseinander gesetzt."
Insgesamt seien in Westdeutschland und dem wiedervereinigten
Deutschland über 36 000 Verfahren geführt worden. Gegen rund 170
000 Beschuldigte sei ermittelt worden.
Viele Juristen sagten allerdings auch, dass trotz aller
Bemühungen nicht genug getan worden sei und eine Verfolgung zu
spät eingesetzt habe. Vor allem in den frühen 50er Jahren sei zu
wenig passiert. Die derzeit noch andauernde Ermittlungsarbeit hält
sie für sinnvoll, auch wenn wegen des hohen Alters der
mutmaßlichen Täter "langsam eine biologische Grenze
erreicht" sei.
Die zunehmende zeitliche Distanz ist auch für Maaß das größte
Problem. Offenkundige Gräueltaten können mitunter nur deshalb
nicht verfolgt werden, weil keine Zeugen mehr leben oder die Täter
vernehmungs- und verhandlungsunfähig sind. Maaß: "Ein
gewisser Frust ist da nicht auszuschließen. Man hofft auf einen
Zufallstreffer."
So etwa bei dem gebürtigen Ukrainer Otto Sein, der 1944 und 1945
in Norditalien in einem Polizeidurchgangslager bei Bozen mit seinem
in Kanada lebenden Landsmann Michael Seifert Juden und Italiener
"auf grausamste Weise" getötet haben soll. Während der
mittlerweile 83-jährige Seifert 2002 in Italien in Abwesenheit zu
lebenslanger Haft wurde und sich seitdem in Kanada gegen seine
Auslieferung wehrt, verlieren bei Sein nach dem Krieg alle Spuren.
Maaß hofft trotzdem, ihn noch zu finden. "Vielleicht steckt er
ja mitten unter uns. Das will ich noch herausfinden." Helge
Toben
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