19.03.07
Anstandstanten im Talar
Zum Skandalurteil von Leipzig.
Betr. Legalisierung des Verbrechens Zwangsarbeit durch ein höchstes
Gericht
Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig beschäftigte sich mit
der Anständigkeit bei gewissen historischen Aktionen. Das
Nachrichtenbüro dpa berichtete unter dem Titel »Entschädigungen
für enteignete Rüstungschefs«. Es gibt so manches Unrecht in der
Welt, aber geradezu unbeschreiblich sind die herzzerreißenden
Leiden jener Rüstungschefs, die enteignet wurden, ohne aber – man
stelle sich das vor – dafür wenigstens entschädigt zu werden!
»Nach Ansicht der Richter«, so dpa, »können die Umstände
bei der Rekrutierung von Zwangsarbeitern nicht dem Unternehmen und
seinen Chefs angelastet werden. Nach dem Urteil stellt die
Beschäftigung von Zwangsarbeitern allein keinen Verstoß gegen die
Menschlichkeit dar. Es komme darauf an, ob die Menschen ›anständig‹
behandelt wurden.« Unter einer anständigen Behandlung oder einem
anständigen Benehmen kann man bekanntlich dieses oder jenes
verstehen. Kommt darauf an, wen wir in dieser Sache befragen. Ein
Justizbeamter (beispielsweise ein Leipziger
Bundesverwaltungsrichter) könnte uns wie folgt belehren: »Wenn
sich der im Zeugenstand befindliche Zeuge vor unserem Hohen
Bundesverwaltungsgericht nicht anständig benimmt, sehen wir uns
geradezu gezwungen, demselben, nichwohr, wegen Ordnungswidrigkeit
eine anständige Ordnungsstrafe zu verpassen, klar?« Die
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts besagt auch:
»Unternehmer, die in der NS-Zeit Zwangsarbeiter ›anständig‹
behandelt haben, können für ihren enteigneten Besitz entschädigt
werden.« Ob es für die Anständigkeit von Unternehmen spricht, daß
sie in der NS-Zeit die Rekrutierung von Zwangsarbeitern vornahmen,
ist für Bundsverwaltungsrichter kein Diskussionsthema. Denn die
Unternehmer ihrerseits waren gezwungen, Zwangsarbeiter zu
rekrutieren, weil sie nur dank der Schinderei dieser Zwangsarbeiter
an der gewaltigen NS-Rüstungskonjunktur verdienen konnten. Und zwar
anständig verdienen. »Anstand« bezeichnet in unserer vieldeutigen
Sprache auch »die verdeckte Stelle, an der der Jäger stehend dem
Wild auflauert«.
Lothar Kusche
Aus „Ossietzky“ Nr. 5/2007 vom 10. März
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