09.02.07
Antifaschismus in der Auseinandersetzung um
Extremismus, Totalitarismus und Stalinismus
Zwei Vorträge von Ludwig Elm,
Jena
Zu Fragen von Antifaschismus und
Stalinismus, zur Totalitarismuskonzeption im heutigen Diskurs um
Extremismus nahm Prof. Ludwig Elm, Historiker aus Jena und Mitglied
des VVN-BdA-Bundesausschusses, in zwei Vorträgen Stellung, die wir
hiermit dokumentieren.
Antifaschismus nach dem
"Jahrhundert der Extreme" - Das Totalitarismuskonzept als
europäische Herausforderung
Beitrag auf der Tagung "Zukunft
des Gedenkens - Perspektiven antifaschistischer Gedenkarbeit",
veranstaltet von der Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.
V. und des Sachsenhausenkomitees, Potsdam, 17. - 19. Juni 2005
Prof.
Ludwig Elm zum Thema: "Geiselnahme und -tötung war
rechtens!" - Juristische Aufarbeitung der Wehrmachtsverbrechen in Mittenwald,
Pfingsten, 7.6.2003, beim Protest gegen die 'Traditionspflege' der
Gebirgsjäger von Wehrmacht und Bundeswehr
Foto: arbeiterfotografie.com
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Auf der Zentralen Gedenkfeier der Bundesrepublik zum 60.
Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen
Konzentrationslager am 10. April 2005 im Nationaltheater Weimar
forderte Jorge Semprún, der Zukunft eines vereinten Europa auch
dadurch einen Weg zu bahnen, dass unsere "bislang getrennten
Erinnerungen" geeint und die Vergangenheit miteinander geteilt
werde. Er verwies auf jene zehn Länder, die aus "dem anderen
Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war", zur
Europäischen Union gekommen sind und äußerte: "Hoffen wir,
dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die
Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis
eingegliedert worden ist."1
Die Problemstellung war - mit anderen Prämissen und
Zielsetzungen - am 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz
durch die Sowjetarmee bereits im Leitartikel der tonangebenden
großbürgerlich-konservativen Tageszeitung dieses Landes erörtert
worden. Es gäbe Versuche, so bemerkte der Autor mäkelnd, den
Holocaust zum negativen Gründungsmythos der Bundesrepublik und
"sogar Europas im allgemeinen und der Europäischen Union im
besonderen zu machen." Das triebe den Kontinent jedoch "in
einen unwürdigen Aufrechnungsstreit" und es träten "zwei
Opfergeschichten in eine hässliche Konkurrenz: "Wenn denn
Europa, mit gutem Grund osterweitert, einen Gründungsmythos
braucht, dann müsste es einer sein, in dem, ohne irgend etwas am
Holocaust zu schmälern, das zweite europäische Großverbrechen des
20. Jahrhunderts angemessen gewürdigt würde."2
Es erscheint als symptomatisch, dass ausgerechnet von
einflussreichen Kreisen in Deutschland eine Sicht auf die
europäische Zeitgeschichte favorisiert wird, die die Erfahrungen
aller europäischer Völker und das erschütternde geschichtliche
Tatsachenmaterial über die kontinentale Eroberungs- und
Vernichtungspolitik der NS-Diktatur und ihrer Verbündeten
revidieren und antikommunistisch kanalisieren soll.
Die perspektivische Erwartung von Semprún als ehemaligem
Buchenwaldhäftling und namhaftem Schriftsteller - bei einem solchen
Anlass und vor diesem Auditorium ausgesprochen - , wäre allein
bereits hinlänglicher Grund, sich zu solchen Erwägungen eine
Meinung zu bilden und dazu Stellung zu beziehen. Erst recht fordern
die erkennbaren geschichtsideologischen Konzepte im vorherrschen
Konservatismus zum Widerspruch heraus. Das alles berührt direkt
Thema und Hauptanliegen unserer Tagung. Die Umstände und Gründe
der Kontroversen sind älter als die aktuelle Veranlassung und sie
bewegen uns selbst längst als historisch-politische Sachverhalte
sowie als Streitfragen der Geschichte und Gegenwart. Ausdrücklich
habe ich mich beispielsweise zu diesem Problemkreis in Thesen zum
Antifaschismus im Herbst 1999, in Beiträgen zu den
Ravensbrück-Häftlingen Margarete Buber-Neumann und Milena
Jesenská (2002/04) sowie in einem Beitrag auf der
Geschichtskonferenz der VVN-BdA im Oktober 2004 in (s.u.)
Buchenwald
geäußert.3
Vorrangig sollte es in unserer Erörterung um folgendes gehen:
- Welche tatsächlichen geschichtlichen Vorgänge und
Erfahrungen werden vom Totalitarismuskonzept erfasst und welche
geschichtsideologischen und geschichtspolitischen Ziele werden
damit verfolgt? Wie sind dabei "sowjetischer
Totalitarismus" und "Stalinismus" in
antifaschistischer Sicht zu beurteilen? Sind das Begriffe, auf
die wir zur Einschätzung historischer Erscheinungen und
aktueller Probleme zurückgreifen können oder sollten?
- Woraus ergibt sich die neue Dringlichkeit dieser Fragen auf
europäischer Ebene? Liegt es vor allem an der Erweiterung der
EU und der NATO? Welche inneren Beweggründe und Triebkräfte
liegen dafür in der jetzigen und absehbaren Phase des
europäischen Integrationsprozesses?
- Worin besteht die spezifische Verantwortung der Bundesrepublik
und was ergibt sich daraus für die antifaschistischen Kräfte,
für die demokratische Linke sowie linksliberal-pazifistische
und humanistische Kräfte?
Die Ausführungen orientieren sich an den drei genannten Fragen
und Schwerpunkten.
Ursprung und Differenzierung des
Totalitarismuskonzepts
Zu erstens: Welche tatsächlichen geschichtlichen
Vorgänge und Erfahrungen werden vom Totalitarismuskonzept erfasst
und welche geschichtsideologischen und geschichtspolitischen Ziele
werden damit verfolgt? Wie sind dabei "sowjetischer
Totalitarismus" und "Stalinismus" in
antifaschistischer Sicht zu beurteilen? Sind das Begriffe, auf die
wir zur Einschätzung historischer Erscheinungen und aktueller
Probleme zurückgreifen können oder sollten? Es geht um unseren
Standort in diesen Debatten und darum, ihn möglichst überzeugend
zu begründen und zu vertreten.
Das Totalitarismuskonzept entstand in den zwanziger Jahren in der
Auseinandersetzung mit höchst unterschiedlichen bis
gegensätzlichen politischen Ideen und Systemen, die sich gegen das
liberale, bürgerlich-parlamentarische und rechtsstaatliche Modell
wandten und radikale Alternativen zu verwirklichen suchten. Das war
einerseits die aus der Oktoberrevolution 1917 hervorgegangene
Sowjetmacht und die seit 1919 entstandene kommunistische
Weltbewegung. Andererseits waren das rechtsextreme Bewegungen und
Regimes, die sich ab Anfang der zwanziger Jahre in Europa als
faschistische, militärfaschistische und
autoritär-antidemokratische Herrschaftssysteme rasch verbreiteten
und in Teilen der Oberschichten aller kapitalistischen Länder
Sympathien und Rückhalt genossen.
Eric Hobsbawm hat in seiner "Weltgeschichte des 20.
Jahrhunderts" den vorherrschenden, rechtsgerichteten Prozess
der Zwischenkriegszeit - 1919-1939 - im Kapitel "Der Untergang
des Liberalismus" sehr eindringlich und differenziert
beschrieben: "Die 'natürliche' Allianz der Rechten zwischen
den Kriegen bestand demnach also aus traditionellen
Nationalkonservativen - unter Einbeziehung der Reaktionäre alten
Stils - bis hin zu den äußersten Randgruppen der faschistischen
Pathologie. Der Faschismus bot ihnen nicht nur Dynamik, sondern, was
vielleicht noch wichtiger war, auch die Möglichkeit eines Sieges
über die Mächte der Zersetzung."4
In diesem Spektrum bildeten die Errichtung der Diktaturen Mussolinis
(Italien 1922) und Hitlers (Deutschland 1933) die
Schlüsselereignisse.
Für unser Herangehen ist wesentlich, dass das Verständnis vom Totalitarismus
linker oder rechter Prägung in den zwanziger und dreißiger Jahren
einen wesentlichen Ursprung in sozialdemokratischen und
sozialistischen, unabhängigen kommunistischen sowie
linksliberal-pazifistischen Richtungen und Gruppierungen hatte.
Vielfach gab es bei ihnen einen eindeutigen Primat des
Antifaschismus und sozialen Demokratismus. Aus verschiedenen,
durchaus nachvollziehbaren Gründen, blieben sie jedoch zugleich
kritisch und distanziert gegenüber dem rigorosen kommunistischen
Führungsanspruch und der Praxis des von Moskau repräsentierten
Herrschaftsmodells. Die Ausprägung dessen stalinistischer Züge ab
Ende der zwanziger Jahre gab dieser Haltung Auftrieb. Diese muss mit
unserem heutigen Wissen über die Art, die Größenordnung und die
Dauer der Verbrechen des Stalinismus über fast drei Jahrzehnte als
eine berechtigte Suche nach einer demokratischen oder
sozialistischen Alternative gewürdigt werden.
Der Stalinismus in dem damit angedeuteten, strengeren
politischen und wissenschaftlichen Sinn und im wesentlichen an das
persönliche Regime und die Lebenszeit Stalins gebunden, erfüllte
wesentliche Merkmale des Totalitären. Dazu gehören massenhafter
und kaum verhüllter Terror, die Rechtswillkür und der
Machtmissbrauch, das Lagersystem (Gulag) und das Ausmaß der
Bevormundung, Überwachung und Entrechtung der BürgerInnen, die
Missachtung elementarer Menschenrechte und generell grundsätzliche
Tendenzen der Menschenverachtung. In der Regel vervollständigte ein
irrationaler sowie antidemokratischer,
patriarchalisch-emanzipationsfeindlicher Personenkult diese
hauptsächlichen Merkmale. Sinngemäß und auf Grund
historisch-politischer Zusammenhänge und naheliegender Analogien
sind dieser Bewertung des Stalinismus auch die ihm verwandten Phasen
und Erscheinungsformen des Maoismus, das Pol-Pot-Regime und weitere
ähnliche Sachverhalte zuzuordnen.
Eine fundierte Aufarbeitung und schonungslose Verurteilung des
Stalinismus und ihm verwandter Erscheinungen ist für Antifaschisten
notwendig, um die Glaubwürdigkeit ihres humanistischen und
menschenrechtlichen Anspruchs zurückzugewinnen und diesen künftig
überzeugend vertreten zu können. Diese Position muss Teil unseres
grundsätzlichen Selbstverständnisses sein. Sie kann nicht nur
gelegentlich bei bestimmten Anlässen und Angriffen defensiv und
rechtfertigend, vielleicht gar halbherzig, eingenommen werden.
Anlässlich der Verleihung der Carl-von Ossietzky-Medaillen 2004
der Internationalen Liga für Menschenrechte an Esther Bejarano,
Peter Gingold und Martin Löwenberg - alle Repräsentanten der
VVN-BdA - kam es beispielsweise in der Liga zu Kritik an der
Vergangenheit der VVN und an deren fehlender kritischer Darstellung
im Zusammenhang mit der Auszeichnung. Carmen Lange schrieb an Rolf
Gössner, die Darstellung der Geschichte der VVN sei dabei
"historisch falsch und einseitig": "Tragisch ist doch
gerade, dass die in der NS-Zeit und später in der BRD politisch
Verfolgten sich selber an der politischen Verfolgung (vermeintlich)
Andersdenkender beteiligten - dass z. B. kommunistische NS-Opfer,
die in der Zeit stalinistischer Säuberungen in der SED und der KPD
Anfang der 50er Jahre aus irgendwelchen Gründen aus der SED oder
KPD ausgeschlossen wurden, danach auch von der VVN ausgeschlossen
wurden, man ihnen also quasi die Verfolgteneigenschaft aberkannt
hat, abgesehen davon, dass man sowieso nie alle Verfolgten
anerkannte".5
Im weiteren Briefwechsel mit Gössner äußerte C. Lange,
"dass jeder Verstoß gegen die Menschenrechte genauso zu
kritisieren, jedes Verbrechen genauso zu bekämpfen ist, unabhängig
davon, welche Farbe die Fahne hat, die am Lagertor weht. Und dafür
steht die VVN leider gerade nicht." Das Bild werde schief,
"wenn man nichts zur Verfolgung missliebiger NS-Verfolgter in
der DDR sagt."
Wir sind mit diesem großen Problemkreis sowohl im Prinzipiellen,
als auch auf wichtigen Einzelfeldern herausgefordert. Zu Letzteren
gehören nach meiner Überzeugung als spezifische
Verpflichtungen insbesondere:
- Es ist eine Schuld und die Pflicht zu einer zumindest
politisch-moralischen und geschichtlichen Wiedergutmachung
gegenüber denjenigen deutschen, österreichischen, jüdischen
und Antifaschisten anderer Nationalitäten, Konfessionen und
politischer Überzeugungen, die in den dreißiger bis frühen
fünfziger Jahren Opfer stalinistischer Verfolgung und
Vernichtungsorgien wurden. Das ist nur unter Einschluss von
Kritik und Selbstkritik der aus nachvollziehbaren Gründen eng
mit der kommunistischen Bewegung verbundenen Richtungen,
Organisationen und Persönlichkeiten des Antifaschismus
möglich. Die kritische Erörterung sollte der geschichtlichen
Bedingtheit und der Widersprüchlichkeit der damaligen Vorgänge
und den unverkennbaren Momenten des Tragischen für viele
Betroffene gerecht zu werden bestrebt sein.
- Die Deformation und geistig-moralische Verwahrlosung
antifaschistischer Grundeinsichten und Leitbilder in der
Sowjetunion zwischen dem Abschluss des Nichtangriffspaktes mit
Hitlerdeutschland (Ende August 1939) und dessen Überfall (22.
Juni 1941) sind uneingeschränkt aufzuklären und darzustellen.
Die vom sowjetischen Geheimdienst im Auftrag der Partei- und
Staatsführung erfolgte Auslieferung zahlreicher deutscher und
österreichischer Antifaschisten an die Gestapo bezeichnet
wahrscheinlich die tiefste Stufe solcher Verhaltensweisen.
Margarete Buber-Neumann ist auf diesem Weg aus dem Lager
Karaganda (Kasachstan) über Moskau und - in Brest-Litowsk
übergeben - Berlin (Gestapozentrale) nach Ravensbrück
gekommen. Stellvertretend für das Schicksal Hunderter, in der
Sowjetunion verbliebener, entrechteter Immigranten sei das von
Krezentia (Zensl) Mühsam genannt: Nach der Ermordung ihres
Ehemanns, des Schriftstellers und Anarchisten Erich Mühsam - am
10. Juli 1934 im KZ Sachsenhausen - emigrierte sie 1935 in die
Sowjetunion. Der ersten willkürlichen Verhaftung 1936 folgte
eine zweite 1938, die zu jahrelanger Haft im Gulag führte.
Inzwischen wurde bekannt, dass ursprünglich auch Zensl Mühsam
und die 1936 zu 10 Jahren Lager verurteilte, im Juni 1942
siebenunddreißigjährig im Gulag verstorbene Schauspielerin
Carola Neher, für die Übergabe an die Gestapo vorgesehen
waren. Z. Mühsam konnte entgegen ihrem Willen erst 1955 in die
Heimat zurückkehren. In der uneingeschränkten Aufarbeitung
sollte es uns neben den individuellen Schicksalen und Tragödien
auch um die machtpolitischen und ideologischen Ursachen solcher
Fehlentwicklungen sowie die Erfahrungen und Folgerungen gehen,
mit denen solchen substanziellen Beschädigungen von
Sozialismus, Demokratie und Menschlichkeit wirksam zu begegnen
ist.
- Es ist mit unseren Bemühungen dazu beizutragen, dass
fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen und antijüdische
Exzesse nach dem Mai 1945 und bis in die fünfziger Jahre
sowie deren Opfer nicht der Vergessenheit anheimfallen. Dazu
gehören die Diskriminierung ehemaliger sowjetischer
Kriegsgefangener, KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter nach ihrer
Rückkehr in die Heimat, die jahrelange Fortdauer willkürlicher
Haft und Rechtlosigkeit sowjetischer wie ausländischer
BürgerInnen und die antisemitischen Verfolgungen während der
letzten Lebensjahre Stalins und deren Opfer. Zu Letzteren
gehören beispielsweise die Ermordung des Schauspielers und
Vorsitzenden des 1942 gegründeten Jüdischen Antifaschistischen
Komitees (JAK), Salomo Michoels, im Januar 1949 in Minsk, die
Auflösung des JAK im November 1948 sowie die Verfolgung und
Verurteilung (zumeist Hinrichtung) einer Reihe seiner führenden
Köpfe - jiddisch schreibender Autoren - im Juli/August 1952.6
- Die nach 1945 in der Sowjetunion und in der internationalen
kommunistischen Bewegung andauernde sowie damit auch in
antifaschistischen Organisationen wie der VVN und der bis Anfang
1953 in der DDR bestehenden VdN verbreitete Verleugnung des
Gulagsystems und seiner Opfer, aber auch weiterer
stalinistischer Untaten (Katyn), sind als kritikwürdige Momente
unserer eigenen Geschichte nicht länger zu tabuisieren oder
unzulässig zu relativieren, sondern schonungslos aufzuarbeiten
und darzustellen. Das gilt auch für Episoden, die für das von
Moskau inszenierte und erpresste Leugnen und Lügen
symptomatisch sind, darunter der Krawtschenko-Prozess 1949 in
Paris, der publizistische und Justizstreit zwischen Emil
Carlebach und M. Buber-Neumann (1950-52), die auf diese
Streitfragen bezogenen Fehlurteile von namhaften linken
Intellektuellen Europas wie Frédéric Joliot-Curie, Georg
Lukács oder Jean-Paul Sartre u. a. m.
- Die Kritik muss auch den Halbheiten und Inkonsequenzen in der
Erforschung und Aufhellung der stalinistischen Fehlentwicklungen
und Verbrechen nach dem 20. Parteitag der KPdSU (Anfang 1956)
gelten, die schließlich bis zu den Wandlungen um 1990
andauerten - oder sich mancherorts bis heute fortsetzen. Das
alles bedeutet auch eine Pflicht zur moralischen
Wiedergutmachung gegenüber allen, deren Weg als Opfer des
Faschismus, als Verfolgte und Widerstandskämpfer, unter den
genannten Voraussetzungen der Nachkriegsjahrzehnte und des
Kalten Krieges sowie damit vielfach auf Grund politischer
Differenzen, nicht hinreichend anerkannt oder gar missachtet
worden ist.
Andererseits gilt es festzuhalten: In der Bundesrepublik haben
seit ihrer Gründung bis in die späten sechziger Jahre
konservative, militant antikommunistische Spielarten des
Totalitarismuskonzepts dominiert. Sie erwiesen sich für die
restaurativen Kräfte nach dem Dritten Reich und unter den
Bedingungen des Kalten Krieges auf deutschem Boden und in Europa als
äußerst brauchbar für das antikommunistische Hauptanliegen.
Dieses Konzept hat in modernisierten oder auch bloß vordergründig
aktualisierten Versionen wiederum seit Anfang der neunziger Jahre
einen vorherrschenden Einfluss gewonnen. Dagegen vor allem richtet
sich unsere Kritik, insbesondere in folgenden Richtungen und
Aspekten:
Diese Versionen - einschließlich der offiziösen Angebote und
Legenden vom "antitotalitären Konsens" dieses Landes -
sind primär antikommunistisch. Antifaschistische
Traditionen, Programme und Bestrebungen werden antikommunistisch
ausgewählt, bewertet und eingeordnet. Nicht der über
traditionsreiche extremistische Antisozialismus und nicht
konservativ-nationalistische Apologien des Faschismus, sondern
antifaschistische Initiativen und Bestrebungen, selbst die VVN-BdA,
erscheinen in den Verfassungsschutzberichten dieses Landes. Ein
selbst weit rechts wurzelndes, offiziöses Verständnis von rechtem
und linkem Extremismus setzt das Totalitarismuskonzept in
antidemokratische Herrschaftspraxis um. Zu den großen Konstanten
der politischen Ideologie der deutschen bürgerlichen Gesellschaft
seit 1871 und über die Brüche von 1918/19, 1933 und 1945 hinweg,
gehört das Einvernehmen, dass der Feind links steht. Die Erklärung
findet sich in sozioökonomischen, politischen und
geistig-kulturellen Kontinuitäten der vergangenen anderthalb
Jahrhunderte. Das ist die ordinäre, alltägliche Wirklichkeit des
"antitotalitären Konsenses".
Der rechtsgerichtete Antitotalitarismus der Adenauer-Ära
entbehrte nicht nur einer grundsätzlichen, geschweige denn
vorrangigen, antifaschistischen Komponente. Mittels der Priorität
antikommunistischer Leitbilder und Ziele wurde er im Prozess der
Restauration ab 1948/49 zugunsten der Schlussstrich-Mentalität, der
Verdrängung der NS-Vergangenheit und des jahrelangen Verzichts auf
die Ermittlung und Sühne von Nazi- und Kriegsverbrechen wirksam. Er
diente dem "großen Frieden mit den Tätern", wie es Ralph
Giordano vor Jahren zutreffend formulierte. Bereits ab 1950 wurde
dieser rabiat antikommunistische Antitotalitarismus für die
Diskriminierung und offene politische Verfolgung kommunistischer
Antifaschisten und weiterer Demokraten, Pazifisten und Sozialisten
instrumentalisiert.
Seit den neunziger Jahren fungiert der mobilisierte militante
Antikommunismus in der geschichts- und politikwissenschaftlichen
Gestalt des Totalitarismuskonzepts zugunsten erneuter politischer
Ausgrenzung, Entrechtung und zeitgeistiger Formierung. In Gestalt
des "Diktaturenvergleichs" kommt dem Konzept eine
Schlüsselrolle im Rahmen der aktuellen Grundtendenzen des
nationalkonservativen, tendenziell rechtsextremistischen
Geschichtsrevisionismus zu.
Der Innenausschuss des Bundestages tagte
unter Beteiligung der Enquete-Kommission "Aufarbeitung der
Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" am 7. März 1994
auf dem Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen zum Thema
"Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten".
Erstmalig seit Gründung der Bundesrepublik hatte ein
Bundestagsausschuss den Ort eines ehemaligen KZ und ein
einschlägiges Thema zur Beratung gewählt. Wer darin eine, obgleich
verspätete, aber dennoch bemerkenswerte Zuwendung zur
Faschismusanalyse erkennen wollte, wurde bald naiver Hoffnungen
überführt. Vorbereitende Fragen, Teilnehmer- und Rednerkreis sowie
Ablauf der Veranstaltung offenbarten: Der Hauptzweck bestand darin,
an einem Ort mit "doppelter Vergangenheit" (KZ und
sowjetisches Internierungslager) die DDR optisch neben die
NS-Diktatur zu stellen. Die Vorgänge und Verbrechen in den KZ bis
Frühjahr 1945 waren viereinhalb Jahrzehnte für alle maßgeblichen
Kräfte des Bundestages kein hinreichender Anlass für eine solche
politisch-parlamentarische Initiative gewesen. Dieser
antikommunistischen Logik unbeirrt folgend, führte die nächste
Enquete-Kommission zur DDR im Oktober 1996 eine Anhörung im
ehemaligen KZ Buchenwald durch.
Totalitarismusdebatte auf
europäischer Ebene
Zu zweitens: Woraus ergibt sich die neue Dringlichkeit
dieser Fragen auf europäischer Ebene? Liegt es vor allem an der
Erweiterung der EU und der NATO? Welche inneren Beweggründe und
Triebkräfte liegen dafür in der jetzigen und absehbaren Phase des
europäischen Integrationsprozesses?
Ausgangspunkt ist zunächst, dass die im Totalitarismusdiskurs
zum vergangenen Jahrhundert thematisierten Bewegungen, Ideologien,
Regimes und Ereignisse mindestens von europäischer, weithin jedoch
sogar von weltweiter Dimension und Wirkung sind. Letzteres wird
spätestens beim Blick auf Vorgeschichte und Verlauf sowie auf die
Wirkungen des Zweiten Weltkriegs unübersehbar. Es gilt auch für
die kommunistische Weltbewegung, die weltpolitische Autorität der
UdSSR nach 1945 sowie die Herausbildung des realsozialistischen
Weltsystems einschließlich beispielsweise des Phänomens des
Maoismus.
Die nach dem Tode Stalins im März 1953 eingeleitete
Entstalinisierung eröffnete die posttotalitären Entwicklungen im
internationalen Realsozialismus, die selbst langwierig und
widersprüchlich sowie in den einzelnen Ländern höchst
differenziert verliefen. Die Fortexistenz oder Neuerrichtung rechtestgerichteter Diktaturen in Europa nach 1945 (Spanien, Portugal,
Türkei, Griechenland) sowie in Asien, Lateinamerika und Afrika
nährten von der anderen Seite solche politischen und
wissenschaftlichen Debatten. Die Kolonialpolitik, der
Neokolonialismus, der moderne Militarismus und bestimmte
Erscheinungen und Wirkungen des Neoliberalismus verdienten es
dringend, in eine zeitgemäße Erörterung totalitärer Tendenzen
und Sachverhalte einbezogen zu werden.
Das Europäische Parlament bekannte sich in seiner Entschließung
vom 11. Februar 1993 zur Verantwortung im Hinblick auf die Erhaltung
und öffentlichkeitswirksame Nutzung der KZ-Gedenkstätten. Das
erfolgte unter Verweis auf "ihre ganz besondere geschichtliche
Bedeutung" sowie unter "Ablehnung jeder willkürlichen
Verquickung zwischen der Realität der nationalsozialistischen Lager
und ihrer etwaigen Nutzung nach dem Krieg". Das Europäische
Parlament forderte "die Mitgliedstaaten, den Rat und die
Kommission auf, alle Initiativen, u. a. auch finanziell, zu
unterstützen, die darauf abzielen, die ganz besondere Bedeutung der
von den Nationalsozialisten errichteten Konzentrationslager zu
bewahren, und diese Stätten unter europäischen und internationalen
Schutz zu stellen."
Die Erweiterung der EU vor allem aus dem jahrzehntelang zum
sowjetischen Einflussbereich gehörenden Kreis baltischer sowie ost-
und südosteuropäischer Länder bringt zwangsläufig neue Stimmen
und Gewichte in die Geschichtsdebatten ein. Das wurde erneut und
eindringlich im Vorfeld und im Verlauf des 60. Jahrestages der
Befreiung vom Faschismus sichtbar. Die restaurativen Kräfte in
diesen Ländern stimulieren über die legitime und notwendige
kritische Geschichtsaufarbeitung hinaus konservative und entschieden
antisozialistische Sichtweisen auf ihre Herkunft, Traditionen und
Ansprüche. Darin begegnen sie sich mit entsprechenden Positionen
und Bestrebungen der Rechten in den Gründungs- und Stammländern
von EU und NATO, insbesondere in der Bundesrepublik.
Inzwischen zeitigt auch die Einbeziehung rechtspopulistischer,
teilweise direkt aus dem Erbe faschistischer Bewegungen erwachsener
Parteien in Regierungskoalitionen - beispielsweise in Österreich
und Italien - erhebliche Auswirkungen zugunsten der Verharmlosung
oder gar Rechtfertigung des historischen Faschismus, Rassismus und
Antisemitismus. Auch das gewinnt an Einfluss durch die fließenden
Übergänge zu national- und rechtskonservativen, nationalistischen
und militaristischen Richtungen und Konzepten. Einerseits die gegen
die Menschheit gerichtete nazistische Barbarei zu relativieren und
andererseits den Kommunismus insgesamt mit Stalinismus
gleichzusetzen und zu dämonisieren, lässt mittel- und langfristige
Tendenzen der angestrebten Geschichtsinterpretation erkennen.
Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) brachte Anfang
Februar 2004 im Europaparlament eine Resolution zur
"Verurteilung des totalitären Kommunismus" ein. Sie
fordert darin die Sammlung und Bewertung kommunistischer
Menschenrechtsverletzungen auf europäischer Ebene, eine offizielle
Erklärung zur internationalen Verurteilung des "totalitären
Kommunismus", die Einrichtung eines Forschungs- und
Dokumentationszentrums, einen "Tag der Opfer" und ein
ihnen gewidmetes Erinnerungsmuseum. In einer gründlichen Analyse
des Antrags bemerkte Ekkehard Lieberam: "Die für das
Totalitarismus-Konzept der Resolution typische Gleichsetzung von
Kommunismus und Faschismus findet gleich am Anfang der
PPE-Resolution ihren Ausdruck in den Worten von den 'zwei gleich
inhumanen totalitären Regimes Kommunismus und Nazismus'. Ansonsten
ist aber vom Nazismus oder von Nazideutschland nicht mehr die Rede.
Weder wird auf dessen Verbrechen in Europa eingegangen noch werden
etwa Untersuchungen über diese Verbrechen in den osteuropäischen
Staaten befürwortet. Auch von der Gefahr anwachsender
neofaschistischer und antisemitischer Tendenzen in einigen
europäischen Staaten ist nicht die Rede."7
Die Handschrift der deutschen Konservativen und damit den
Nazifaschismus entlastende Bemühungen sind in dem Papier
unverkennbar.
Die von allen Fraktionen des Europäischen Parlaments - mit
Ausnahme der Linksfraktion - am 12. Mai 2005 angenommene
Entschließung zum 60. Jahrestag des Endes des Zeiten Weltkriegs
enthält analoge geschichtsrevisionistische Grundtendenzen, darunter
durch begriffliche Gleichsetzung von Nazideutschland und
Sowjetunion, die daraus folgende Relativierung der NS-Verbrechen und
die Leugnung des maßgeblichen Befreiungsbeitrags der UdSSR. Bei
diesem Anlass die Veränderungen von 1989/90 als eigentliche
Befreiung Europas darzustellen, setzt die menschheitsgeschichtliche
Tragweite der Zäsur vom Mai 1945 herab.
Mit solchen Begründungen lehnten es die Präsidenten Estlands
und Litauens ab, die Einladung zu den Befreiungsfeiern am 9. Mai in
Moskau anzunehmen. Die lettische Präsidentin, Vaira Vike-Freiberga,
die in der Bundesrepublik aufgewachsen war und lange in Kanada
lebte, nahm in Moskau teil, verhehlte jedoch nicht ihre analogen
Geschichtsbilder. In einem Interview im März 2005 äußerte sie zum
9. Mai 1945, dass halb Europa unter sowjetischer Herrschaft blieb,
"entweder okkupiert wie die baltischen Staaten oder als
Satelliten. Die drei baltischen Staaten stimmen völlig darin
überein, dass es den Verlust unserer Freiheit und den Beginn
unbeschreiblichen Leids (Hervorhebungen - L. E.) unserer Völker
bedeutete."8 In
diesem Geschichtsbild werden faktisch die
völkisch-nationalistischen Bewegungen und Diktaturen in den
baltischen Staaten seit den zwanziger Jahren, aber auch die
hitlerfaschistische Okkupation ab Sommer 1941 - das
"Reichskommissariat Ostland (RKO) - der angeblichen
Freiheitsgeschichte zugerechnet. Die fast vollständige Liquidierung
des lettischen, litauischen und estnischen Judentums - unter
Mithilfe einheimischer Hilfskräfte von Polizei und SS sowie
weiterer Akteure bei Pogromen - und das damit verbundene massenhafte
Leiden und Sterben werden als nicht erwähnenswert abgetan.
Bundesrepublik und europäische
Geschichtspolitik
Zu drittens: Worin besteht die spezifische Verantwortung
der Bundesrepublik und was ergibt sich daraus für die
antifaschistischen Kräfte, für die demokratische Linke sowie
linksliberal-pazifistische und humanistische Kräfte?
Die Bundesrepublik gehört nach ihrem Potential und ihrer
geostrategischen Lage zu den wichtigsten Ländern der EU und der
NATO; sie nimmt direkt und vermittelt einen wesentlichen Einfluss
auf alle zwischenstaatlichen und internationalen Beziehungen und
Arbeitsgebiete. Die außen- und wirtschaftspolitischen Bestrebungen
werden von zielstrebigen kultur- und geschichtspolitischen
Bemühungen flankiert. Das gilt auch für den Erwerb von Verlagen
und Zeitungen in Osteuropa, das Wirken von Stiftungen, die
Kooperationen im akademischen Bereich sowie Werbe- und
Schulungsveranstaltungen der Gauck/Birthler-Behörde im Ausland.
Dabei werden folgerichtig die von uns im bundesdeutschen Inland
analysierten geschichtspolitischen Prozesse und ideologischen
Tendenzen nach außen verfolgt bzw. bei den Partnern maximal zu
fördern versucht.
Beim Vergleich des nachsichtigen Umgangs mit Putin und Russland -
beispielsweise hinsichtlich der Verbrechen in Tschetschenien -
einerseits und den anmaßenden, historisch und ethisch halt- und
maßlosen Auftritten gegenüber Tschechien andererseits wird
sichtbar, wie bedenkenlos auch in Fragen der Geschichte und der
Vergangenheitsbewältigung Interessen- und Machtpolitik exekutiert
wird. Es geht nicht primär um Wahrheit und Menschenrechte, sondern
darum, erreichbar erscheinende Einflusssphären in jeder
Hinsicht gefügig zu machen.
Die Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der
SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" des 13.
Deutschen Bundestages führte am 25. Januar 1998 eine öffentliche
Sitzung mit internationaler Beteiligung durch zum Thema:
"Herausforderungen und Perspektiven der
Vergangenheitsaufarbeitung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa".
Nebenbei: Es gab nie ein vergleichbares Gremium zur
"Überwindung der Folgen der NS-Diktatur" und selbstredend
nie eine solch hochrangige internationale geschichtspolitische
Bemühung, um die "Vergangenheitsaufarbeitung" nach
Franco, Salazar, türkischen Junten und griechischen
Putschisten-Generälen oder gar nach den Kolonialkriegen Belgiens,
der Niederlande, Großbritanniens und Frankreichs
öffentlichkeitswirksam zu unterstützen.
Der Vorsitzende Rainer Eppelmann bemerkte einleitend: "Wir
Deutschen haben in diesem Jahrhundert zwei totalitäre Regime
erlebt. Das eine, der Nationalsozialismus, war selbstgewählt, das
andere von der Sieger- und anfänglichen Besatzungsmacht Sowjetunion
implantiert, von deutschen Gesinnungsgenossen dann allerdings auch
willig exekutiert. In ganz Europa wird heute die Frage diskutiert,
ob es zulässig ist, die faschistische und die kommunistische
Diktatur unter einem Oberbegriff zusammenzufassen, dem Begriff
'totalitär' bzw. 'Totalitarismus'."9
Dies seien wohl die geeigneten Begriffe, das vergangene Zeitalter zu
ordnen und zu bewerten.
Anna Wolff-Poweska, Poznan, entsprach allerdings in ihrem Referat
nicht dem erwarteten, ebenso schlichten wie rigorosen,
rechtsgestrickten Totalitarismusschema, als sie sagte: "Zur
Aufarbeitung gehört nicht nur, dass man der vergangenen Epoche
sowie ihren wichtigsten Akteuren und ihren Mitläufern Gerechtigkeit
widerfahren lässt. Es liegt nicht im wohlverstandenen Interesse des
neuen demokratischen Rechtsstaats, die Legitimierung des neuen
Systems auf der Basis einer vereinfachenden
Schwarz-Weiß-Konfrontation der alten Diktatur mit der neuen
Demokratie zu suchen. Die Kultur der Abwendung vom Kommunismus wird
in hohem Maße die Kultur und die Qualität des demokratischen
Staates bestimmen." So wie damals der Antifaschismus nicht
ausgereicht habe, den Kommunismus zu legitimieren, so reiche
"es heute nicht, Antikommunist zu sein, wenn man Demokrat
werden will. Eine neue demokratische Identität verlangt ein
historisches Gedächtnis."10
Es gehe in der Geschichtsdiskussion auch um politische Ziele und um
Machtfragen.
Der Kommunismus weise, fuhr Frau Wolff-Poweska fort, wie die
Demokratie unterschiedliche Formen und Schattierungen auf: "Wer
heute das System, das zum Beispiel von 1945 bis 1989 für Polen
verbindlich gewesen ist, als verbrecherisch qualifiziert, kommt mit
der Wahrheit in Konflikt. Fast überall in Mittelosteuropa hatte der
Kommunismus in der Zeit nach Stalin eine bedeutende Evolution
durchgemacht." Die "Detotalisierung" im Sowjetblock
sei, glaube sie, in Polen am weitesten fortgeschritten. "Nach
1956 herrschte hier eine Version eines posttotalitären autoritären
Kommunismus."11
Schließlich mahnten die Erfahrungen mit der Abkehr vom Kommunismus
zur Bescheidenheit, da es "dafür weder Patentlösungen noch
fertige Rezepte" gäbe.
In der Bundesrepublik wird das primär und entschieden
antisowjetische Geschichtsbild maßgeblicher Gruppen der baltischen
sowie weiterer ost- und südosteuropäischer Länder bereitwillig
und intensiv aufgenommen, verbreitet und nach eigenen Kräften und
Interessen maximal gefördert. Die Thüringer CDU hat Ende der
neunziger Jahre mit Hilfe ihrer Landtagsfraktion und Landesregierung
aus Haushaltsmitteln die Stiftung Ettersberg für international
vergleichende Diktaturforschung gegründet. Nach dem Personal und
dem Konzept erscheint die Stiftung als eine Filiale der
Konrad-Adenauer-Stiftung. Seit diesem Jahr erhält sie eine
jährliche institutionelle Förderung. Ost- und Südosteuropa sind
bevorzugte Wirkungsfelder; der Vorstandsvorsitzende Hans-Joachim
Veen äußerte 2004, dass er den thematischen Schwerpunkt auf die
"sozialistischen Diktaturen" lege. Dem Stiftungsrat
gehören auch Professoren aus Warschau und Budapest an.
Ehrenmitglieder sind Jorge Semprun und Bernhard Vogel.
Das 2. Internationale Symposium im Oktober 2003 beschäftigte
sich mit dem Wechsel, Wandel und Kontinuitäten der Eliten in den
neuen Bundesländern sowie in Polen, Ungarn und Rumänien. Das 3.
Internationale Symposium wurde in Zusammenarbeit mit der Stiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Oktober 2004 in Weimar zum
Thema "Der Kommunismus im Museum" durchgeführt. Die
jeweiligen LeiterInnen stellten in Wort und Bild ihre Museen vor:
Zeitgeschichtliches Forum Leipzig (Rainer Eckert), Haus des Terrors
Budapest (Mária Schmidt), Memorial Sighet/Rumänien (Ana Blandiana),
die Okkupationsmuseen Tallinn und Riga (Heike Ahonen und Gudega
Michel), Genocidmuseum Vilnius (Eugenijus Peikstenis) sowie die
Stiftung Socland und das Zentrum KARTA, beide Warschau (Marek
Kozicki und Piotr Filipkowski).
Neben der Herabsetzung des sowjetischen Beitrags zur Befreiung
vom Faschismus nehmen in den Medien sowie in Bildung und Forschung in
der Bundesrepublik Schilderungen zur Kollaboration in den besetzten
Ländern, Relativierungen der Resistance sowie Angriffe auf die
Partisanenbewegungen und die Parteinahme für deren
"Opfer" zu.
Gelegentlich zeitigt die Polemik gegen Stalin groteske Züge. Der
sowjetische Diktator hatte bis 1948/49, gestützt auf Aussagen von
deutschen Kriegsgefangenen, die zum engeren Mitarbeiterkreis des
"Führers" gehört hatten, ein Dossier über Hitler
anfertigen lassen. Das für die Veröffentlichung bearbeitete
Dokument erschien Anfang 2005 in deutscher Übersetzung. Der
Rezensent einer renommierten Wochenzeitung merkte entrüstet an:
"Von dem Jahrhundertverbrechen der nationalsozialistischen
Judenvernichtung ist überhaupt keine Rede."12
Die Herausgeber würden dies in der Rückschau als
"empörend" einschätzen. An der Haltung Stalins ist
sicher auch bei diesem Thema nichts zu beschönigen.
Dem Rezensenten wie den Herausgebern ist der folgende
vergleichbare Sachverhalt jedoch offenbar völlig unbekannt:
"Von dem Jahrhundertverbrechen der nationalsozialistischen
Judenvernichtung" war auch in der etwa zeitgleich - am 20.
September 1949 - abgegebenen Regierungserklärung des frisch
gewählten Bundeskanzlers Konrad Adenauer keine Rede. Beiträge von
Rednern seiner Koalitionsparteien CDU/CSU, FDP und Deutsche Partei
haben das skandalöse ideell-moralische Bild beim Antritt der ersten
bundesdeutschen Regierung nach Hitler noch verschlimmert. Die
Ehrenrettung erfolgte in der Debatte zur Regierungserklärung durch
die Reden von Kurt Schumacher und Carlo Schmid (beide SPD), Max
Reimann und Walter Fisch (beide KPD) sowie Helene Wessel (Zentrum).
Der kritische Leser ahnt angesichts eklatanter Wissenslücken einmal
mehr, warum die Frühgeschichte der Bundesrepublik - von
einzelnen ausgezeichneten Studien abgesehen - in Bildung, Medien und
öffentlicher historisch-politischer Diskussion völlig unzureichend
gegenwärtig ist.
Antifaschismus in die Europäische Verfassung! Das war und bleibt
im Grundsatz eine legitime und wesentliche Forderung der VVN-BdA und
anderer antifaschistischer Kräfte. Die Erfahrungen der vergangenen
Wochen mit dem Befreiungstag 8. Mai als europäischem Gedenktag
bestätigen diese Position und bestärken uns darin. Entscheidend
ist dabei nicht das Schicksal des konkreten, vielleicht schon
gescheiterten Verfassungsvorschlags, sondern, dass Antifaschismus
als entscheidende Voraussetzung und als politisch-moralische wie
kulturelle Grundlage aller friedlichen und zivilisatorischen Chancen
und Entwicklungen in Europa seit 1945 anerkannt und im öffentlichen
Bewusstsein tief und fest verankert wird. Das kann und muss den
Befreiungsbeitrag der Sowjetunion und des kommunistischen
Widerstands ebenso selbstverständlich und uneingeschränkt
einschließen wie die Wahrheit über die geistigen Urheber, die
Täter sowie alle Nutznießer, Handlanger und Mitläufer der
Nazibarbarei.
Anmerkungen
1. Zentrale
Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Befreiung der
nationalsozialistischen Konzentrationslager am 10. April 2005 in
Weimar. Hrsg.: Thüringer Staatskanzlei. Abt.
Öffentlichkeitsarbeit, Erfurt 2005, S. 26
2. Thomas
Schmid: Auschwitz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.
Januar 2005
3. Ludwig
Elm: Antifaschismus an der Schwelle des neuen Jahrtausends - 11
Thesen zur Diskussion, in: antifa, 10, Oktober 1999, S. 17-20;
ders.: Im "Zeitalter der Extreme": Leben am Abgrund und
Zufälle des Überlebens, in: Von Potsdam nach Moskau und zurück.
Aus Anlass des 100. Geburtstages von Margarete Buber-Neumann,
Schkeuditz 2002, S. 89-104; ders.: Milena Jesenská - Solidarität
und Widerstand angesichts Flucht und Vertreibung 1933 - 1940, in:
Flucht, Vertreibung und Erinnern, Jena 2004, S. 83-91; ders.: Zum
Beispiel DDR - totalitär und stalinistisch? Anmerkungen zu Herkunft
und Differenzierung der Totalitarismus-Konzeption sowie ihrer
erneuten politischen Instrumentalisierung, Jena 2004, 12 S.
(Rosa-Luxemburg-Stiftung in Thüringen e. V. - TEXTE &
ARGUMENTE).
4. Eric
Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20.
Jahrhunderts, Darmstadt o. J., S. 161
5. Zit.
nach: Liga-Report. Informationsbrief der Internationalen Liga für
Menschenrechte, 1/2005, S. 32
6. Vgl.
Susanne Klingenstein: Gekommen in Hoffnung, geendet im Justizmord.
Der lange Krieg Stalins gegen die Literatur einer Minderheit: Vor
fünfzig Jahren wurden die Angeklagten im sowjetischen Schauprozess
gegen jiddische Schriftsteller hingerichtet, in: FAZ, 10. August
2002
7. Ekkehard
Lieberam: "Verurteilung des totalitären Kommunismus".
Bewertung einer Resolution der Europäischen Volkspartei vom 3./4.
Februar 2004, in: ICARUS. Zeitschrift für soziale Theorie und
Menschenrechte, Berlin, H. 3/2004, S. 31
8. FAZ,
22. März 2005
9. Materialien
der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der
SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" (13. Wahlperiode
des Deutschen Bundestages). Hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. VII:
Herausforderungen für die künftige Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Perspektiven der internationalen Zusammenarbeit bei der Aufarbeitung
totalitärer Diktaturen, Baden-Baden - Frankfurt a. M. 1999, S. 889
10. Ebenda,
S. 904
11. Ebenda,
S. 906f. Wie kritische Anmerkungen zur offiziösen deutschen Debatte
liest sich die anschließende Aussage: "Auch der Wille zum
Totalitarismus war bei den Führern des Landes abgebröckelt.
Deswegen wäre eine Verurteilung der gesamten Zeitspanne en bloc und
eine Gleichsetzung der stalinistischen Funktionäre mit denen, die
am Ende als Postkommunisten frei von ideologischen Bindungen an das
alte System in gutem Glauben bemüht waren, für ihr Land zu
arbeiten, ein ahistorisches und sehr oberflächliches Fehlurteil.
Häufig führt eine Dämonisierung des alten Systems dazu, dass der
öffentlichen Meinung nach dem Munde geredet und nur der eigene
Konformismus gerechtfertigt wird." (S. 907)
12. Klaus
Hildebrand: Mit den Augen des Dieners, in: Die Zeit, Nr. 16, 14.
April 2005
Totalitarismuskonzeption heute
Beitrag auf der Geschichtskonferenz der VVN-BdA, Weimar-Buchenwald,
2.-3. Oktober 2004
Einleitende Bemerkungen
In diesem Beitrag nur ausgewählte Aspekte des umfangreichen
Themas:
- Zur Geschichte
- Differenzierte Einschätzung der Konzepte und unsere
Auseinandersetzungen
- Instrumentalisierungen seit den neunziger Jahren und in
absehbaren Phasen
I. Einige Bemerkungen zur Geschichte
des Totalitarismuskonzepts
Ausgangspunkt sind die historisch-politischen Voraussetzungen
für die Entstehung der Totalitarismus-Konzeption in den zwanziger
Jahren. Es sind zwei herausragende Ereignisse, die zu erklären und
zu bewerten damals vordringliche und schwierige Herausforderungen
waren: Die Oktoberrevolution und die Entstehung der Sowjetmacht
in Russland 1917 auf der einen, die Errichtung der faschistischen
Diktatur Mussolinis im Oktober 1922 in Italien auf der
anderen Seite. In vielen Ländern nahmen Strömungen, Leitbilder und
Herrschaftskonzepte auffällig zu, die sich auf solche
Herrschaftsmodelle orientierten. Die NS-Diktatur 1933 gab diesen
Interpretationen weiter Auftrieb.
Als Schlüsselbegriff der neuen politischen Theorie oder
auch bloß einer entsprechenden kritischen Haltung zu diesen
neuartigen Entwicklungen setzte sich der des Totalitarismus durch.
"Totalitarismus" bezeichnet somit von Anbeginn höchst
unterschiedliche bis gegensätzliche Richtungen und Regimes und
fasst diese nach wirklichen oder vermeintlichen Gemeinsamkeiten und
Analogien, schließlich nach bestimmten Kriterien und in Versuchen
zu ihrer Definition zusammen. Eine unbestreitbare Übereinstimmung
bestand in der Wahrnehmung von Zeitgenossen offenkundig darin, dass
Bolschewismus wie Faschismus mit liberalen Traditionen und darauf
gegründeten bürgerlich-parlamentarischen, rechtsstaatlichen
politischen Systemen und Prinzipien, also mit der bürgerlichen
Demokratie und ihren Institutionen, brachen oder ihnen als
möglicher Perspektive Absagen erteilten.
Übergreifend wird als "totalitär" im Kern der mehr
oder weniger unbeschränkte Zugriff auf die Mitglieder der
Gesellschaft angesehen und bezeichnet, der auf Kosten ihrer Würde,
ihrer Rechte und Freiheiten sowie ihrer Individualität realisiert
wird.
Das schloss bei beiden neuartigen Herrschaftskonzepten im
einzelnen Konsequenzen ein wie die Abschaffung der
Gewaltenteilung und das Entstehen eines mehr oder weniger
unbeschränkten Machtmonopols in den Händen einer Partei
bzw. kleiner Gruppen oder sogar bloß einer Person der einen, der
herrschenden politischen Richtung. Daraus erwuchs die Abschaffung
oder erhebliche Beschränkung von politischen Rechten und
Freiheiten sowie des Pluralismus der Meinungen und
Konzepte, aber auch das Aufkommen von umfassenden und meist nahezu
unkontrollierten Überwachungs- und Sicherheitsapparaten.
Die in den zwanziger Jahren zunächst vor allem im liberalen
und sozialdemokratischen Spektrum aufkommenden
Totalitarismus-Konzepte nahmen vorrangig solche antiliberalen und
autoritären bis diktatorischen Wesenszüge und Strukturen der
politischen Ordnungen in ihre Charakteristik "totalitärer
Systeme" auf. In der Regel vernachlässigten sie dabei die
erheblichen Unterschiede oder Gegensätze im Ursprung, in den
sozialen und ideellen Grundlagen sowie in der Gesellschaftsstrategie
der jeweiligen Bewegungen oder Regimes.
Es begann die nunmehr rund achtzigjährige Geschichte dieses
geschichts- und politikwissenschaftlichen Theorems. Dabei entstanden
Differenzierungen, die von der positiven Selbstcharakteristik des
Faschismus durch Politiker und Ideologen - beispielsweise im Begriff
des "totalen Staates" in Italien und bei Carl Schmitt,
Ernst Forsthoff u. a. in Deutschland, als "totale
Mobilmachung" bei Ernst Jünger und schließlich mit dem von
Goebbels verkündeten "totalen Krieg" - über
faschismuskritische konservative Versionen bis zu sozialistischen
und unabhängigen - antistalinistischen - kommunistischen Richtungen
und Gruppierungen reichten. Eine weitere auffällige Erscheinung
dieser Theoriegeschichte ist, dass der Einfluss und die jeweiligen
Ausprägungen sehr von den gegebenen historisch-politischen
Rahmenbedingungen und konkreten Situationen abhängig sind. Darin
wird die jeweilige politische Funktionalisierung der Theorie
sichtbar. Das ist ein Punkt, an dem die Kritiker des
Totalitarismus-Konzepts immer wieder anknüpfen. Nachdem es
beispielsweise in den dreißiger Jahren auch in den USA erheblichen
Einfluss gewonnen hatte, schienen der Hitler-Stalin-Pakt vom August
1939 und die anschließende Periode der Beziehungen zwischen beiden
Staaten bis Juni 1941 dieses politikwissenschaftliche Deutungsmodell
völlig zu bestätigen. Dem entsprach die vorherrschende Sichtweise
auf einer Konferenz US-amerikanischer Politikwissenschaftler im
November 1939 in Philadelphia.
Mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR am 22. Juni
1941 und der Herausbildung der Anti-Hitler-Koalition brachen diese,
das sowjetische mit dem hitlerdeutschen Regime parallelisierenden
Wertungen, plötzlich ab und verschwanden bis 1945/46 in der
Versenkung der Bibliotheken oder der unveröffentlichten
Manuskripte.
Wenig später, mit dem Ausbruch des Kalten Krieges, kam die
Totalitarismus-Theorie in der westlichen Welt ab 1946/47 zu einer
neuen Konjunktur und sie wurde in der Bundesrepublik der fünfziger
und frühen sechziger Jahre in Politik, Wissenschaft, Bildung und
Medien zur vorherrschenden meinungsbildenden Strömung der Politik-
und Geschichtswissenschaft. Dabei traten situationsbedingt rechte
Versionen in den Vordergrund: Das Konzept bewährte sich für die
daran interessierten Kräfte erneut als politisch
instrumentalisierbar. Vordenker des Neoliberalismus wie Ludwig von
Mises, Wilhelm Röpke, Friedrich August von Hayek u. a. leisteten ab
Ende der dreißiger Jahre - zunächst in der Emigration - mit ihren
Ausarbeitungen ebenfalls theoretische Grundlagen und
politisch-ideologische Beiträge zu rechten, militanten Spielarten
des Totalitarismuskonzepts. Das waren praktisch Beiträge zur
Anpassung des Konservatismus und Antikommunismus an veränderte
Bedingungen. Das mündete ab 1947/48 in die Strategien der
Restauration und in die Grundlagen der Bundesrepublik.
Das bedeutete in den Jahren des Kalten Krieges - in der
Adenauer-Ära - vor allem, dass sich ein unumgänglicher, jedoch im
Gefolge der Restauration weithin halbherziger Antinazismus mit
verschiedenen, auch militanten Spielarten des Antikommunismus in
beliebigen, totalitarismustheoretischen Kombinationen verbinden und
dabei auch dem letzteren unterordnen ließ. Die in Deutschland,
Europa und der Welt allgegenwärtige Konfrontation mit der UdSSR und
ihren Verbündeten erleichterte die gewünschte Priorität des
Antikommunismus. Der zehnte Jahrestag des 20. Juli 1944 konnte
beispielsweise im Sommer 1954 in Beziehung zum 17. Juni 1953 gesetzt
und auch dadurch für das offiziöse bundesdeutsche
Selbstverständnis aufgewertet werden.
Die direkte Abhängigkeit vor allem des konservativen
totalitaristischen Modells von politischen Bedingungen und
Interessen bestätigte sich in den siebziger Jahren: Mit dem
Übergang zur Entspannungs- und europäischen Vertragspolitik der
siebziger Jahre kam es zu einem rapiden Verlust an Glaubwürdigkeit
und Einfluss sowie fast zum Ableben der Totalitarismus-Konzepte.
Auch im Verhältnis zur Sowjetunion und zur DDR traten
beispielsweise Industriegesellschafts-, Modernisierungs- und
Konvergenztheorien in den Vordergrund. Der deutschen
Zweistaatlichkeit wurde mit Thesen von der fortbestehenden deutschen
Kulturnation begegnet.
II. Zur Differenzierung innerhalb der Totalitarismuskonzepte und
zu Konsequenzen für unsere Auseinandersetzung mit ihren Vertretern
und Thesen
In der marxistisch-leninistischen Lehre wurde das
Totalitarismuskonzept vom Ursprung her und in allen
Erscheinungsformen als Spielart des Antikommunismus rundum abgelehnt
- es wurde prinzipiell kritisiert oder ignoriert. Diese Haltung
nimmt weiterhin ein nicht unbeträchtlicher Teil der Linken ein.
Erklärbar ist dies aus der bundesdeutschen Erfahrung, dass das
Konzept überwiegend entschieden antikommunistisch benutzt und
auf
Kosten des Antifaschismus verfochten und verbreitet wurde und wird.
Das reicht von dem vielfach behaupteten, jedoch kritisch zu
hinterfragenden angeblichen "antitotalitären
Gründungskonsens" der Bundesrepublik bis in die heutigen
offiziösen Angebote von "antitotalitärem Konsens". Es
lässt sich als ideologisch-politische Arbeitsgrundlage des
Verfassungsschutzes und damit beispielsweise auch in dem in der
Bundesrepublik vorherrschenden konservativen Extremismusbegriff
nachweisen. Die Unterschiede zu dem in Westeuropa dominierenden
Verständnis sind gravierend und nicht zu übersehen. Die verkürzte
Formel "Rot gleich Braun" kann begreiflicherweise ohnehin
nicht auf Zustimmung von links rechnen.
Ein Entweder-Oder scheint jedoch auch in diesem Fall -
Totalitarismustheorie - ja oder nein? - nicht überzeugend und
hinlänglich begründet zu sein. Vielmehr kommt der erheblichen
Differenzierung unter den Vordenkern und Anhängern dieses Modells
entscheidende Bedeutung zu.
Aufmerksamkeit und Anerkennung verdienen vor allem die
liberal-pazifistischen und die sozialdemokratisch-sozialistischen
Traditionslinien und Vorstellungen von Antitotalitarismus seit den
zwanziger Jahren. Hier sind Gruppen der sozial- und
geisteswissenschaftlichen Emigration zu nennen - beispielsweise
Herbert Marcuse und Franz Neumann; darüber hinaus antifaschistische
Sozialdemokraten, Sozialisten und unabhängige Kommunisten sowie
stellvertretend aus dem Kreis der Schriftsteller und Publizisten:
Hellmut von Gerlach, Erika, Klaus und Heinrich
Mann, Walter Mehring,
Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky und Stefan Zweig.
Karl Jaspers reflektierte in seiner berühmten Schrift "Die
geistige Situation der Zeit" von 1931 das Empfinden der Krise
der "gegenwärtigen Daseinsordnung" und schrieb: "Es
ist begreiflich, dass wir fast alle versagen. Wie Auswege zu
leichterer Möglichkeit erscheinen Bolschewismus und Faszismus. Man
kann wieder einfach gehorchen und alles Handeln jeweils dem Einen
überlassen, der das Regiment sich erobert hat. Diese Formen
weltlicher Diktatur sind Ersatz für die Autorität; aber sie sind
es um den Preis des Verzichts fast aller, selbst zu sein."
(Jaspers 1949, 94)
Bei allen Unterschieden ist den Genannten gemeinsam, dass ihr
Antitotalitarismus einerseits wesentlich antinazistisch,
antirassistisch und nicht nationalistisch ist sowie andererseits
ihre Kritik an Kommunismus und Bolschewismus vor allem liberal,
rechtsstaatlich und menschenrechtlich begründet wurde. Diese Kritik
am sowjetischen Modell, an der kommunistischen Bewegung und am
Marxismus-Leninismus ist durch den Verlauf der Geschichte in hohem
Maße bestätigt worden. Diese antitotalitäre Grundhaltung steht -
im Unterschied zu den Konservativen - nicht in der Tradition des
Antisozialismus Bismarckscher oder alldeutsch-wilhelminischer
Prägung, ist auch keine Verkleidung autoritär-antidemokratischer
oder einer anderen Variante hegemonial-militaristischer Politik und
ist schließlich kein Erbe oder Fortsetzer der verschiedenen
antimarxistischen Schulen seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts.
Es ist eine weitere notwendige Differenzierung in den heutigen
Kontroversen zum Totalitarismus-Konzept anzusprechen. Es ist
unzulässig - wie es sehr oft geschieht - , den Begriff des
Kommunismus mehr oder weniger mit dem des Stalinismus
gleichzusetzen, also beide Begriffe - sei es fahrlässig, sei es
absichtsvoll - weitgehend synonym zu gebrauchen. Das geschieht
hauptsächlich dadurch, dass das Verständnis von Stalinismus
extensiv ausgeweitet wird.
Der Kommunismus zwischen 1900 und 1990 kann als epochale und
globale, weltweit, regional und in einzelnen geschichtlichen Phasen
höchst heterogene Strömung oder Herrschaftsform ebenso wenig als
monolithische, vorwiegend oder gar ausschließlich stalinistische,
Einheit angesehen werden wie der Weltkapitalismus der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts pauschal als mehr oder weniger faschistisch
bezeichnet werden könnte.
Ian Kershaw äußerte in einem Aufsatz über
"Nationalsozialistische und stalinistische Herrschaft.
Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs": "Der Begriff
'Stalinismus' sollte auf die Herrschaft der Sowjetunion zu Lebzeiten
Stalins beschränkt werden." (Kershaw 1999, 222) Diese Position
erscheint stichhaltig.
Das schließt zugleich ein, dass es zwischen Nationalsozialismus
und einem so charakterisierten Stalinismus, der etwa die drei
Jahrzehnte von 1923 bis 1953 umfasst, zeitweilig und partiell eine
große Nähe und einige Übereinstimmungen gab:
Persönliche
Diktatur und Machtmissbrauch, Rechtlosigkeit und Willkür,
Menschenverachtung, Massenterror und Lagersystem (Gulag/KZ). Im
strengen Sinn darauf bezogen. ist eine reale historisch-politische
Substanz der Grundidee des Totalitarismus gegeben.
Das war der Abgrund für Margarete Buber-Neumann und andere, den
sie im Herrschaftsbereich Stalins wie Hitlers am eigenen Leib
erfahren mussten. Mit ihrer authentischen Erfahrung in den Lagern
Stalins hat sie beim Streit mit Kommunistinnen in Ravensbrück, dann
ungeachtet der Widerrede höchst prominenter Zeitgenossen - darunter
Jean Frédéric Joliot-Curie und Jean-Paul Sartre - als Zeugin im
Krawtschenko-Prozess in Paris 1949, in der Auseinandersetzung mit
dem Kommunisten und ehemaligen Buchenwaldhäftling, Emil
Carlebach,
(1951/52) und anderen Zeitgenossen und Gegnern recht gehabt. Leider
sind solche bis 1945 gemeinsam Verfolgte und Leidende auch
spätestens nach 1956 oder 1985 nicht zu einer klärenden und
versöhnenden Begegnung gekommen.
Unrecht hatte auch Georg Lukács, der in seinem 1954 erschienenen
Hauptwerk in einem Nachwort "Über den Irrationalismus der
Nachkriegszeit" die Krawtschenko-Frage, die der
Arbeitsstraflager in der Sowjetunion", geradezu als
exemplarischen Fall für die ideologischen Konfrontationen im
beginnenden Kalten Krieg stilisierte - allerdings als vermeintlichen
Beweis für "das ständig sinkende Niveau der
Antisowjetpropaganda". Er sprach vom "Krawtschenko-Prinzip"
und der "Methode Krawtschenko" sowie über "ordinäre
Polizeiagenten von der Art der Krawtschenko, Ruth Fischer usw."
und deutete es als Beleg für die antisowjetische Rolle der
Renegaten der kommunistischen Bewegung. (Lukács 1954, 621ff.) Aus
dieser voreingenommenen Grundhaltung heraus, hielt Lukács die
Hauptzeugin im Krawtschenko-Prozess, Margarete Buber-Neumann, für nicht der Erwähnung
wert.
Die geschichtliche Hauptverantwortung für solche Irrtümer und
Fehlurteile seitens vieler überzeugter Kommunisten liegt bei der
Führung der KPdSU, des Sowjetstaates und der internationalen
kommunistischen Bewegung, die die Lebenslüge der
marxistisch-leninistischen Ideologie und Herrschaftspraxis - das
Leugnen oder Verdrängen des Charakters und der Dimension der
stalinistischen Verbrechen - letztlich über Jahrzehnte und damit
bis in die Phase des Scheiterns des Systems in dieser oder jener
Weise aufrechterhalten hat.
Selbst angesichts weitreichender Analogien zwischen dem Regime
Stalins und der NS-Diktatur ist jedoch zugleich auf fundamentale
Unterschiede zu verweisen. Dazu gehören die Gegensätze in den
Ursprüngen, Grundlagen und gesellschaftlichen Zielen, die
schließlich auch in der Gegensätzlichkeit ihres Scheiterns und der
Art und Weise der Überwindung des jeweiligen "totalitären
Systems" sichtbar wurden.
Die Nazibarbarei war die Verwirklichung des
völkisch-rassistischen - insbesondere antisemitischen - , des
hegemonial-militaristischen und überhaupt
terroristisch-menschenverachtenden Programms der faschistischen
Bewegung und beträchtlicher Teile der gesamten deutschen
bürgerlichen Gesellschaft. Weder in ihrer Herkunft noch in ihren
Nachlässen gibt es Bewahrenswertes. Faschismus ist Aufkündigung
der Humanität und aller elementaren Errungenschaften der
Zivilisation, ist ein Verbrechen und das Dritte Reich war ein
"Verbrecherstaat" (Karl Jaspers).
Dagegen ist das Schreckensregiment Stalins und seines Umfeldes
nicht die Verwirklichung sozialistischer oder kommunistischer
Vorstellungen und Ziele, sondern im Gegenteil der radikale Bruch
mit
Herkunft und Wesen dieser Strömungen, insbesondere mit ihrem
ursprünglich und konstitutiv demokratischen und humanistischen
Wesen. Es war der Bruch auch mit dem originären Denken und Streben
von Marx und Engels sowie verschiedener Schulen und Richtungen des
seitherigen marxistischen und sozialistischen Denkens.
Im April 2001 hatte in New York eine Tagung zum "Kleineren
Übel" (Lesser Evil) in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, zu
Bedeutung und Geschichte des Vergleichs von Nationalsozialismus und
Stalinismus, stattgefunden. In einem Konferenzbericht war über den
Eröffnungsvortrag von Tzvetan Todorow (Paris) zu lesen:
"Todorov berief sich auf Margarete Buber-Neumanns Memoiren 'Als
Gefangene bei Stalin und Hitler', um die Unterscheidung zu belegen,
dass die Sowjets ihre Häftlinge zwar als Sklaven, die Nazis ihre
Opfer jedoch nicht mehr als Menschen behandelt hätten. Das
russische Kolyma ähnelt Buchenwald, doch es gab nie etwas wie
Treblinka in der Sowjetunion." (Baer 2001, 55)
Bei der Offenlegung der Geschichte der sowjetischen
"Speziallager" von 1945-1950 in der SBZ wurde deutlich,
dass hier das Gulag-System übergegriffen und diese Lager in
zunehmenden Maße der antifaschistischen Intention alliierter
Beschlüsse über zeitweilige Internierungslager im
Nachkriegsdeutschland entfremdet hatte. In den Kontroversen zum
Vergleich von KZ und Speziallager - nicht zuletzt am Beispiel der
Lager mit "doppelter Vergangenheit" wie Buchenwald und
Sachsenhausen - kamen die gleichen grundsätzlichen Streitfragen der
Totalitarismusdebatte auf.
Außer den wesentlichen Unterschieden, die sich aus den Fragen,
was Ursache und was Wirkung im Verhältnis beider Lagertypen war,
ergeben, bleibt die Differenz, dass die hohe - viel zu hohe -
Sterberate beispielsweise in Buchenwald zwischen 1945 und 1950 nicht
durch Mord und Totschlag, nicht mittels Tod durch Arbeit, sondern
aus den katastrophalen Ernährungs- und hygienischen Verhältnissen
resultierte. Aus der Opferperspektive mögen solche
Differenzierungen bedeutungslos, vielleicht sogar makaber
erscheinen. Sie sind es jedoch nicht, wenn über die
geschichtlichen, sozialen und politisch-moralischen Bedingungen und
Ursachen humanitärer Katastrophen, über den Charakter der daran
ursächlich beteiligten Bewegungen und Ideologien und über
gesellschaftliche wie ethische Schlussfolgerungen nachzudenken ist.
Hannah Arendt und andere Autoren haben in Terror und
Lagersystem
hauptsächliche Kennzeichen des Totalitarismus gesehen. Das spricht
für die hier vertretene These über die Nähe von Faschismus und
Stalinismus, aber auch für die unumgängliche Unterscheidung von
Stalinismus und Post-Stalinismus. Bei der seit einigen Jahren
geradezu konjunkturellen Berufung auf die berühmteste Denkerin der
Totalitarismus-Theorie geraten - keineswegs zufällig - Hauptthemen
und Kernpositionen ihres Lebenswerks an die Peripherie oder werden
völlig verdrängt.
In der ernstzunehmenden internationalen Debatte nimmt längst die
Differenzierung zwischen dem im Sinne Kershaws definierten
Stalinismus einerseits und poststalinistischen Regimes und
Verhältnissen andererseits einen wesentlichen Platz ein. Das
betrifft auch die Reichweite des Totalitarismus-Vorwurfs und die
dafür maßgeblichen Kriterien. Kershaw selbst äußerte, dass das
Potential eines fruchtbaren Vergleichs wesentlich geringer werde,
"wenn der Begriff 'Stalinismus' bzw. 'stalinistische
Herrschaft' auf das sowjetische System nach dem Tod Stalins
erweitert oder gar als Synonym für die marxistisch-leninistische
Herrschaft schlechthin verwendet wird. Wesentliche Merkmale des
'post-stalinistischen Stalinismus' lassen sich mit den
Charakteristiken der NS-Herrschaft wie mit denen der stalinistischen
Herrschaft deutlich kontrastieren." Daher könne man "mit
Recht daran zweifeln, ob der Totalitarismus-Begriff für beides
benutzt werden kann." (Kershaw 1999, 214)
Juan L. Linz hat diese Sichtweise mit seinen Beiträgen zur
Differenzierung zwischen totalitären und autoritären Regimes
untersetzt. Er führte den Begriff des "posttotalitären
politischen Regimes" ein: "26 der 27 postkommunistischen
Staaten in Europa (die einzige Ausnahme ist Polen) hatten sich
während des Stalinismus bzw. vor der jugoslawischen 'Häresie'
jeweils dem totalitären Idealtypus angenähert.. Die meisten von
ihnen kamen später auch dem posttotalitären Idealtypus nahe. Der
Terminus posttotalitär als solcher besagt, dass dieser Regimetyp
von seinen Gründern ursprünglich nicht als ein bestimmter Typ
politischer Ordnung wahrgenommen worden war, sondern dass er im
Ergebnis von Veränderungen in einem System entstand, das einmal dem
totalitären System nahegestanden hatte." (Linz 2000, 252)
Das entgegengesetzte, in diesem Land bisher auch dank großer
Bemühungen staatlicher Geschichtspolitik vorherrschende Konzept,
wurde bei der deutschen Ausgabe des "Schwarzbuchs des
Kommunismus" durchgesetzt. Nicolas Werth schließt seinen
umfangreichen Beitrag über die UdSSR mit dem "Ende des
Stalinismus" in den fünfziger Jahren ab und bezieht die
poststalinistischen Jahrzehnte nicht mehr als bloße, angeblich
unveränderte Fortsetzung von "Gewalt, Unterdrückung und
Terror in der Sowjetunion" ein.
Dagegen wurden in die deutsche Ausgabe zwei Beiträge zur DDR
aufgenommen, die nie eine Diktatur à la Stalin war und deren
Lebenszeit ganz überwiegend der post-totalitären Geschichte
zuzuordnen ist. In seinem Beitrag "Politische Verbrechen in der
DDR" ist Ehrhart Neubert mit einem weitgehenden Verzicht auf
ein Mindestmaß an Objektivität bemüht, die DDR als durchweg
kriminelles Unternehmen darzustellen und die erwünschte Platzierung
neben Stalin, Mao und Pol Pot zu rechtfertigen. Das geschichtliche
Tatsachenmaterial wie die internationale Forschung und Diskussion
ignorierend, behauptet er: "Die kommunistische Herrschaft von
1917 bis 1991, in Ostdeutschland von 1945 bis 1989, war aus einem
Guss." (Neubert 1998, 834)
III. Platz der Totalitarismuskonzeptionen im rechten
Geschichtsrevisionismus und politische Instrumentalisierung seit den
neunziger Jahren
Seit 1990 kam es zu einer bereits häufig und nicht unzutreffend
so genannten "Renaissance" und diese Tendenz dauert zum
jetzigen Zeitpunkt unverkennbar an. Sie gedieh im Zusammenhang mit
der kritischen Aufarbeitung von mehr als sieben Jahrzehnten
realsozialistischem Herrschaftssystem und Marxismus-Leninismus. Die
in der Bundesrepublik nach dem Ende der DDR gegebene Asymmetrie der
Debatte führte dazu, dass die Rigorosität des Feindbildes vielfach
an die rabiat antikommunistische Atmosphäre der fünfziger Jahre
erinnerte. Dafür wurden eine Reihe von Institutionen und Foren
geschaffen, umfangreiche Mittel für Forschungen, Stipendien,
Tagungen und Publikationen bereitgestellt. Seit 1998 geschieht dies
weithin unter dem Dach der Stiftung zur "Aufarbeitung der
SED-Diktatur".
Dazu haben zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages
zur "SED-Diktatur" maßgeblich beigetragen. Die
Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages "Aufarbeitung
von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"
veranstaltete am 3. und 4. Mai 1994 in Berlin eine öffentliche
Anhörung "Zur Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in
Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart". Horst
Möller,
Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, vertrat im
einleitenden Referat das Totalitarismus-Konzept im Sinne der
Nivellierung von Stalinismus und Post-Stalinismus - also eines
extensiven Stalinismus-Begriffs - sowie einer weitgehenden
Parallelisierung von DDR und Drittem Reich. Jürgen Kocka, Sigrid
Meuschel und Rainer Lepsius widersprachen den politisch motivierten,
wissenschaftlich fragwürdigen Positionen. So äußerte Kocka, dass
es zwischen DDR und NS-Regime "zahllose, erhebliche, ins
Gewicht fallende Unterschiede" gäbe: "Je genauer man
hinblickt, je gründlicher man das Herrschaftssystem, die Sozial-
und Rechtspolitik, die Minderheitenpolitik, die Sozialgeschichte,
das Wirtschaftssystem, den Alltag, die Kultur der beiden Diktaturen
untersucht, desto mehr treten ihre tiefgreifenden und vielfältigen
Unterschiede hervor." (Materialien 1995, 592)
Auf Betreiben der Thüringer CDU unter Bernhard Vogel wurde Ende
der neunziger Jahre nach dem Beispiel des Hannah-Arendt-Instituts in
Dresden die Stiftung Ettersberg für Totalitarismusforschung
gegründet und wird seither üppig mit Steuergeldern gefördert,
darunter bei mehreren internationalen Tagungen. Das 3.
Internationale Symposium wird von ihr gemeinsam mit der Stiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur vom 21. bis 23. Oktober 2004 in Weimar
zum Thema "Der Kommunismus im Museum" durchgeführt.
Die Selbstverständlichkeit, mit der inzwischen die Formel von
den "zwei Diktaturen in Deutschland" um sich gegriffen hat
und ebenso unablässig wie leichtfertig fragwürdige
Parallelisierungen der DDR mit der Nazibarbarei verbreitet werden,
gehört zu den auffälligsten Äußerungen der
geschichtsideologischen und politischen Grundtendenzen seit den
neunziger Jahren. In der Gedenk- und Erinnerungspolitik wurde dies
inzwischen in die Formel von den "zwei Diktaturen und ihren
Opfern" übersetzt. Wie die Praxis der offiziellen Gedenkkultur
in Sachsen, Sachsen-Anhalt und anderswo zeigt, geht die faktische
Entlastung der NS-Diktatur und ihrer Täter noch über die
ungeheuerliche Parallelisierung in der genannten Formel hinaus.
Abschließend sei vermerkt, dass bisher das Problem totalitärer
Tendenzen oder Gefährdungen in den westlichen Demokratien -
beispielsweise im neoliberal gesteuerten Globalisierungsprozess -
noch nicht einmal angesprochen wurde. Aber dieser Problemkreis
könnte heute und in Zukunft eine weitaus größere Bedeutung
gewinnen; möglicherweise auch unter der global gemeinten
Überschrift, dass nichts mehr so ist, wie es vor dem 11. September
2001 war. Auch wenn die weitere Aufarbeitung der weltgeschichtlichen
Phänomene von Extremismus und Barbarei im vergangenen Jahrhundert
andauert und noch der Bemühungen nachwachsender Generationen
bedarf, sollte bedacht werden, dass künftige totalitäre
Gefährdungen wahrscheinlich mit anderen Rechtfertigungen und
Erscheinungsformen auftreten werden als die der Vergangenheit.
Literatur
Baer, Ulrich 2001: Mordeten Stalins Schergen menschlicher? Eine
New Yorker Konferenz über den Holocaust und das "kleinere
Übel". In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. April 2001
Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20.
Jahrhunderts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft o. J.
Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit (1931). Zweiter
unveränderter Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Auflage,
Berlin 1949
Kershaw, Jan 1999: Nationalsozialistische und stalinistische
Herrschaft. In: E. Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert.
Eine Bilanz der internationalen Forschung. 2., erweit. Aufl. Bonn:
Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe, Bd. 336),
213-222
Lewis, Sinclair: Das ist bei uns nicht möglich. Roman. Leipzig
und Weimar: Kiepenheuer 1992
Linz, Juan José: Totalitäre und
autoritäre Regime. Hrsg. von Raimund Krämer. Berlin 2000,
(Potsdamer Textbücher PTB. Bd. 4)
Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1954
Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte
und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode
des Deutschen Bundestages). Hrsg. vom Deutschen Bundestag. Neun
Bände in 18 Teilbänden. Baden-Baden/Frankfurt a. M.: Nomos
Verlag/Suhrkamp Verlag 1995. Bd. IX, 574-777
Neubert, Ehrhart 1998: Politische Verbrechen in der DDR. In:
Stéphane Courtois, Nicolas Werth u. a.: Das Schwarzbuch des
Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München: Piper,
829-884
Wippermann, Wolfgang 1997: Totalitarismustheorien. Die
Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. Darmstadt:
Primus Verlag
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