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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

11.11.06

Der Anarchist

Herbert Wehner wurde vor 100 Jahren geboren

Über diesen Jahrestag ging die Öffentlichkeit hinweg, und auch die SPD machte davon kaum Aufhebens. Kann sein, daß in der Nach-Schröder-SPD nicht mehr bekannt ist, daß er 40 Jahre lang der einflußreichste Führer der westdeutschen Sozialdemokratie war und daß der Name Wehner dort kaum noch erinnerlich ist.

Die SPD war nicht das einzige Tätigkeitsfeld für Wehner gewesen. Vorher gehörte er der kommunistischen und am Beginn seines politischen Werdegangs der anarchistischen Bewegung an, und zwar jeweils in maßgeblicher Position.

Herbert Richard Wehner wurde am 11. Juli 1906 in Dresden geboren. Sein Vater war Schuhmachermeister. Wehner machte eine kaufmännische Lehre. Etwa 1924 schloß er sich der Gruppe "Junge Anarchisten" in Dresden an. 1925 begegnete er bei einer Veranstaltung der "Roten Hilfe" Erich Mühsam. Wehner wird freier Mitarbeiter der Zeitung Freier Arbeiter. Auf seine Initiative setzen sich die Dresdner "Jungen Anarchisten" von der "Freien Arbeiterunion Deutschlands" (FAUD) ab, und es entsteht die "Anarchistische Tatgemeinschaft" mit einer eigenen Zeitung Revolutionäre Tat. Von der Zeitung erscheinen drei Ausgaben im Großformat mit je vier Seiten. Ein kompletter Satz befindert sich im Antiquariat der Buchhandlung Weltbühne und wird in diesem Heft (verkleinert) faksimiliert nachgedruckt. Die Gruppe besteht aus 14 Mitgliedern beiderlei Geschlechts. Der Einfluß auf die Dresdner Arbeiterschaft dürfte wohl sehr gering gewesen sein, jedoch entwickelt die Gruppe ein reges Innenleben, wobei Wehner der unbestrittene Anführer ist.

Im Oktober 1926 zieht Wehner nach Berlin, ohne die Verbindung zu seinen Dresdner Genossen zu lösen. Er wohnt bei freier Kost und Logis bei Erich und Zenzel Mühsam und arbeitet für Mühsams soeben gegründete Zeitschrift Fanal. Im März 1927 kommt es zum Krach und Wehner fliegt aus der Wohnung. Im Freien Arbeiter greift Wehner Mühsam scharf an.

Doch nach dem Bruch mit Mühsam bleibt Wehner nur noch für wenige Wochen Anarchist. Er tritt in den Roten Frontkämpferbund ein, arbeitet für die Rote Hilfe und wird Mitglied der KPD.

Als Anarchist hatte Wehner noch heftig gegen die KPD polemisiert. Dennoch ist dieser Wechsel so verwunderlich nicht, denn es gab Querverbindungen. Zum Glück sind (oder waren damals zumindest) die Anarchisten in ihren Handlungen nicht so borniert wie in ihren Verlautbarungen. In der Roten Hilfe arbeiteten Kommunisten und Anarchisten zusammen. Das Ehepaar Mühsam hatte - bei allem Meinungsunterschied - keinerlei Berührungsängste. So wohnte in ihrer Charlottenburger Wohnung auch die junge Schauspielerin Lotte Loebinger, die zum Piscator-Ensemble gehörte. Sie war Mitglied der KPD und wurde 1927 Wehners erste Ehefrau. Den Schritt von den Anarchisten zu den Kommunisten tat Wehner auch nicht allein. Die ganze Dresdner Gruppe trat zur KPD über. (Übrigens wurde Erich Mühsam in Anarchistenkreisen gelegentlich als "verkappter Bolschewist" bezeichnet).

1930 wurde Wehner KPD-Abgeordneter im Sächsischen Landtag. Die Ehe mit Lotte Loebinger wurde geschieden (weil sie in Berlin mit einem Schauspielerkollegen ein Verhältnis aufrechterhielt). Wehner heiratete die Fraktionssekretärin Lotte Treuber. 1932 wurde er als Sekretär des Zentralkomitees nach Berlin berufen.

Nach der Machtübertragung an die Nazis 1933 lebte Wehner als einer der meistgesuchten Feinde des Regimes im Untergrund und organisierte den kommunistischen Widerstand. In dieser Zeit - muß man sagen - hing sein Leben am seidenen Faden. 1934 war er im Saarland tätig. 1935 wurden er und Lotte Treuber in der Tschechoslowakei verhaftet und in die Sowjetunion abgeschoben. Lotte Loebinger, ebenfalls in Moskau im Exil, ahnte nicht, daß ihr Ex-Mann auch dort war. Zu einer Begegnung kam es später eher zufällig.

Seit 1937 wohnte das Ehepaar im Hotel Lux in Moskau, in dem die Führung der Komintern untergebracht war. Herbert Wehner war inzwischen (unter seinem Tarnnamen Kurt Funk) Mitglied des Zentralkomitees der KPD. Er wohnte Tür an Tür mit Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck, die später führende Repräsentanten der DDR wurden, ebenso mit Heinz Neumann und Hugo Eberlein, die als "Verräter" und "Trotzkisten" beschuldigt wurden und dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen.

Das Hotel Lux, das man wohl als ein komfortables Internierungslager bezeichnen darf, ist eins der schwärzesten Kapitel in der Geschichte des Kommunismus. Wer dort untergebracht war, saß in der Falle. Stalin und seine Agenten witterten überall Verrat und "trotzkistische" Geheimbündelei. Es wurde um die Wette denunziert, und da jeder denunziert wurde, suchte jeder in der Denunziation sein Heil. Es gibt Schriftstücke, aus denen hervorgeht, daß Wehner ein schärferes Vorgehen gegen die "Neumann-Gruppe" verlangte. Wehner selbst wiederum wurde vorgeworfen, an der Verhaftung Thälmanns schuld zu sein. Wer als "Schuldiger" auserkoren war, hatte keine Chance mehr, seinem Schicksal zu entgehen, und konnte mit einer Rehabilitierung zu Lebzeiten nicht rechnen. Hugo Eberlein wurde nach seinem Tod rehabilitiert, Heinz Neumann nie. Ein System, wonach man für eine Beschuldigung prädestiniert war oder einer solchen Gefahr nicht ausgesetzt sein würde, war nicht erkennbar. Von den in die Sowjetunion emigrierten KPD-Mitgliedern sind wohl ca. 80 % dem stalinistischen Terror zum Opfer gefallen.

Im Januar 1941, noch vor dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion, verließ Wehner Moskau und ließ seine Frau zurück. Er hatte von der KPD den Auftrag, über Schweden ins Reichsgebiet zu gelangen, um den kommunistische Widerstand zu organisieren - was nichts anderes hieß, als auch in den Reihen der Widerstandskämpfer "Verräter" zu entlarven. Daß er es nicht tat, war vielleicht der größte Dienst, den er der kommunistischen Bewegung erwiesen hat.

War die Entsendung eines der höchsten KPD-Funktionäre ins Reichsgebiet ein Himmelfahrtskommando, um den Verdächtigen (jeder war verdächtig) auszuschalten? 1942 wurde er in Schweden verhaftet und beschuldigt, ein sowjetischer Spion zu sein. Dieses Kapitel in der Wehnerschen Biografie wird wohl nie aufgeklärt werden. Am 6. Juni 1942 wurde Wehner aus der KPD ausgeschlossen.

1947 kam es in Berlin zu einer letzten Begegnung mit Lotte Treuber. Wehner war inzwischen mit der Witwe eines kommunistischen Emigranten, Lotte Burmester, verheiratet (deren Tochter Grete heiratete er später). Herbert Wehner war 1945 nach Deutschland zurückgekehrt und Mitglied der SPD. Die Umwandlung der SPD von einer reformistischen Arbeiterpartei in eine pragmatistische "Volkspartei" war wesentlich sein Werk. 1960 machte er im Bundestag der Adenauer-Regierung ein Angebot für eine "Politik der Gemeinsamkeit" - ohne daß die SPD-Bundestagsfraktion darüber vorher informiert, geschweige denn gehört worden wäre. Das läßt einen politischen Stil erkennen, der sich in den drei politischen Phasen dieses Mannes wohl nie verändert hat.
Am 19. Januar 1990 ist Herbert Wehner 83jährig gestorben.

Wehner drängte den Einfluß des linken Flügels der SPD zurück, wie er sich aber auch seiner bedienen konnte. Er zögerte keinen Moment, die große Lichtgestalt seiner Partei, Willy Brandt, zu stürzen. Es wird bezeugt, daß er bei einem Gespräch in der DDR darauf drängte, die Solidarnocs-Bewegung in Polen mit militärischen Mitteln auszuschalten. Nach dem Ende der DDR erklärte Erich Honecker (von der Öffentlichkeit kaum registriert), Herbert Wehner sei in all den Jahren sein Freund und Berater gewesen. Für die Reaktionäre war er ein Kommunist geblieben - zumindest wurde dieser Vorwurf kalkuliert eingesetzt, und Wehner ließ sich dadurch reizen. Brigitte Seebacher-Brandt meint es allerdings ernst, wenn sie sagt, Wehner hätte in Wirklichkeit "mit dem Kommunismus nie gebrochen". Zu bestreiten, daß er - im guten oder im schlechten - ein herausragendes politisches Talent war, wäre töricht. Daß er nicht nur ein hochgebildeter, sondern auch ein musischer Mensch war, wird vielen entgangen sein. Er war ein Fädenzieher. Überzeugung war nicht sein Metier. Wäre er in Moskau geblieben, hätte die Nummer Eins der DDR wohl nicht Walter Ulbricht, sondern Kurt Funk geheißen.

Ein Lebenslauf, dessen Widersprüche sich in dem Eindruck auflösen, daß Anarchismus, Stalinismus und Sozialdemokratie vielleicht gar nicht so weit auseinanderliegen.

H.L.

Mit freundlicher Genehmigung des satirischen Magazins DER METZGER.