05.11.06
Die Armee ohne zivilen Chef
Wo Skandalfotos ebenso wie
Leichen und Befehlshaber verschwinden
Von Ulrich Sander
Wenn es rauskommt, folgen ausführliche Erklärungsversuche des
Verteidigungsministers. Die Totenkopfspielereien bei Kabul seien
Sache des Vorgängers. Von den Folterungen an Deutschen durch
Coesfelder Vorgesetzte und an eingebürgerten Staatsbürgern durch
deutsche CIA-Verbindungsoffiziere und KSK habe man nichts gewusst.
Rommel-Palmen an deutschen Panzern lösen Erstaunen aus, als ob es
keine Rommel-Kasernen gäbe. Dass ein Spionageschiff
"Alster" am 24. Oktober vor Israels und Libanons Küsten
schipperte, sei nur noch nicht gemeldet worden. Die zivile Führung ist uninformiert,
und das hat System. Ein militaristischer Staat im Staat kappt die
Verbindungen zur Politik.
Die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte hat laut
Grundgesetz-Artikel 65a der Bundesminister für Verteidigung, sie
geht im Verteidigungsfall auf den Bundeskanzler über, und zwar laut
Artikel 115b des Grundgesetzes. Obwohl die derzeitige „Verteidigung
am Hindukusch“ (Struck) auf einen Bündnisfall laut
Bundestagsbeschluß von November 2001 – der Bündnispartner USA
war nach Nato-Lesart am 11. September 2001 angegriffen worden –
zurückgeht, haben der Kanzler und später die Kanzlerin nicht die
Kommandogewalt entsprechend dem Grundgesetz übernommen.
Insbesondere vom 10. Juni bis 10. August 2004 hatten wir keinen
verfassungsmäßigen Oberbefehlshaber. Weder Kanzler noch Minister
hatten das Sagen. Minister Struck lag mit Schlaganfall danieder.
Ich erkundigte mich beim damaligen Bundestagspräsidenten
Wolfgang Thierse, denn die Bundeswehr lässt sich gern
Parlamentsarmee nennen. Präsident Wolfgang Thierse ließ mir
mitteilen: „Der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck,
wurde während seiner Erkrankung durch den Parlamentarischen
Staatssekretär Walter Kolbow vertreten.“ Denn die Vertretung der
Minister regele die Gemeinsame Geschäftsordnung der
Bundesministerien (GGO). Es ist erstaunlich, dass diese GGO auch
für ein Ministerium gilt, dessen Vertretungsregelungen
ausdrücklich im Grundgesetz behandelt werden, und dies ist in
keinem anderen Ministerium der Fall.
Also der Staatssekretär Walter Kolbow war Strucks Vertreter
während der Krankheit des Ministers. Da sind wir im Krieg, und
weder der Minister noch der Kanzler führen das Kommando. Und Kolbow
war laut Bundestagspräsident Kommandeur, aber wussten es die
Militärs? Die hatten den Staatssekretär doch nicht mal über die
Vorfälle im Bundeswehrsektor von Kosovo aufgeklärt und nicht über
die Tatsache, dass nach Nazi-Oberst Werner Mölders noch immer eine
Bundeswehrkaserne benannt ist, obwohl der Bundestag dies
ausdrücklich anders beschlossen hat, nachdem bekannt wurde, dass
Mölders Kriegsverbrechen an der spanischen Bevölkerung im Rahmen
der Legion Condor begangen hat. Kolbow hat diese Wissenslücken zugegeben. Auch Struck
hatte diese Wissenslücken. Der Oberbefehlshaber und sein Minister
und auch dessen Stellvertreter, sie wissen nicht bescheid. Dabei
waren und sind wir wirklich im Krieg.
Denn es war in der Zeitschrift „Friedens-Forum“ 4/2004, zu
lesen: Die Redaktion habe nach einigem Hin und Her beim
Bundesministerium für Verteidigung erfahren, dass der nach dem
11.9.01 ausgerufene NATO-Bündnisfall noch gilt. Jawohl, die NATO
hat den Bündnisfall ausgerufen und dieser ist noch aktiv, sprach
ein Fregattenkapitän den Friedensleuten auf den Anrufbeantworter.
Zu Einzelheiten könne sich nur die NATO selbst äußern. So war die
Auskunft.
Müßte sich dazu nicht aber auch das Parlament äußern? Weiß
das Parlament, dass die Parlamentsarmee Krieg führt? Und war der
Kanzler und nun die Kanzlerin denn nun doch Oberkommandeur? Oder
müssten sie es nicht seit dem 16.11.2001 sein, als ja der
Verteidigungsfall im Bundestag beschlossen wurde?
Niemand hat dieses Problem bisher thematisiert. Kein Abgeordneter
hat sich erkundigt. Oder doch? Darüber war in den Medien jedenfalls
nichts zu lesen. Und wurde denn nun der Verteidigungsminister
während seiner Krankheit korrekt vertreten?
Das wurde er nicht. Ihm und seinem Kolbow verschwiegen die
Militärs die Totenkopf-Spielereien in Afghanistan, die erst jetzt
publik wurden, aber zumindest auf der „Dienstgradebene“ bekannt
waren. Sie verschwiegen ihnen die Foltereien in der Kaserne von
Coesfeld. Und sogar die Verlustmeldungen aus dem Gebiet, in dem die
Bundeswehr das Sagen hatte.
Die Medien hätten eigentlich schnell herausfinden können, dass
die Militärs das Sagen haben – ob mit oder ohne Minister. Den
Minister hat niemand vermisst. Der Minister ist erst dann wieder
erforderlich, wenn es um Verhandlungen um den Rüstungsetat geht und
um die Schließung von Garnisonen zum Zwecke der Neuordnung der
Einsatz-Bundeswehr. Sogar das Geldausgeben ist dem
Generalinspekteur, einem Militär, im Rahmen bis zu 25 Millionen
Euro erlaubt, dann müssen nur der Haushaltsausschuß und der
Verteidigungsausschuss des Bundestages zustimmen. Letzterer stimmt
allerdings immer zu; er besteht mehrheitlich aus Reserveoffizieren
und Gattinnen von Offizieren. Die schlagen die Hacken zusammen und
legen die Hände an die Hosennaht, soweit das geht.
Die Medien berichten zumeist nur nach der Art des Axel
Vornbäumen von der Frankfurter Rundschau, nun vom Tagesspiegel. In
seinem Bericht im August 2004 über die Rückkehr des angeblich
genesenen Ministers Peter Struck, der offenbar rein physisch nicht
in der Lage war, politisch ohnehin nicht, die Bundeswehr auf
verfassungsmäßiger Basis als Armee allenfalls zur Verteidigung
deutschen Territoriums – und nicht deutscher Interessen, was immer
das ist - zu führen, bewahrt der Reporter den Minister vor
unangenehmen Fragen. Einmal in Appen bei Uetersen, wo sie Struck
trafen, angekommen, hätten die handverlesenen Medienmacher ja
wenigstens mal fragen können, warum die dortige Marseille-Kaserne
noch immer nach dem „Flieger-As“ Görings und Hitlers, Hauptmann
und Ritterkreuzträger Hans-Joachim Marseille vom Afrika-Korps,
benannt ist, "den wohl begabtesten Jagdflieger des Zweiten
Weltkrieges", wie er in Propagandaschriften der Bundesluftwaffe
bejubelt wird. Sie hätten auch fragen können, warum die Bundeswehr
Jahr für Jahr am Gebirgsjägerstandort Mittenwald die
Kriegsverbrecher der 1. Gebirgsdivision als Vorbilder und Helden
verehrt.
Sie fragten weder Historisches noch Aktuelles. Im März, fünf
Monate früher, hatten sie auch in der Frankfurter Rundschau aus dem
Kosovo berichtet: „Nach Auseinandersetzungen zwischen Albanern und
Serben in Prizren wirken deutsche Kfor-Verantwortliche ratlos. Das
Serbenviertel ist abgebrannt. Die Erlöserkirche hoch über der
Stadt auch. Seit dem 18. März gibt es in dieser Stadt keine Serben
mehr. Das Viertel der Serben ist zerstört. Vom Mob, der bei
Ausschreitungen Kirchen und Häuser in Brand gesetzt hat.“ Und der
unter dem Schutz der Bundeswehr handelte, die nicht eingriff.
Später fand man auch einen toten Serben. Die Bundeswehrführung
wusste davon, aber sie sagte es dem Minister und seinem
Stellvertreter nicht.
Jetzt redet sich Minister Franz-Josef Jung in der
Totenkopfaffäre damit heraus, dass diese ja in die Regierungszeit
von Gerhard Schröder und Peter Struck falle. Das ist natürlich
unfair. Er hätte wahrheitsgemäß sagen müssen: Die
Bundeswehrgeneralität sagt keinem Minister die Wahrheit, welches
Parteibuch er auch hat. Die Bundeswehr ist weder eine Parlaments-
noch eine Regierungsarmee. Sie ist eine Armee des Staates im Staate,
der deutscher Militarismus heißt.
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