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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

17.10.06

Hitler war kein Betriebsunfall!

Rede von Ulrich Sander (VVN-BdA) auf dem Dortmunder Nordmarkt am 15.10.06

Am 16. Oktober 1932 drangen ca. 800 uniformierte Nazis unter Polizeischutz in die Dortmunder Nordstadt ein. Es kam auf dem Nordmarkt und Umgebung zu heftigen Auseinandersetzungen mit der antifaschistischen Arbeiterschaft des Dortmunder Nordens. Zwei Tote und 14 Verletzte waren zu beklagen. Aus diesem Anlass rief das Linke Bündnis Dortmund wieder zu einer Gedenkveranstaltung auf. Im Aufruf hieß es: „Die Veranstaltung ist dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus und dem Kampf gegen den Rechtsextremismus in der heutigen Zeit gewidmet. Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“

Hitler war kein Betriebsunfall!

Rede von Ulrich Sander (VVN-BdA) auf dem Dortmunder Nordmarkt am 15. 10. 06

Das sagte der große Historiker Fritz Fischer, und so lautet der Titel des Buches unseres unvergessenen Emil Carlebach.

Dem deutschen Faschismus wurde der Weg an die Macht bereitet vom reaktionären Konservatismus und Militarismus sowie von ökonomischen Eliten – und daher gilt:

Der antifaschistische Kampf endete nicht 1945 – denn vieles, was dem Faschismus vorausging, das folgte ihm auch nach.

Auch auf diesem Platz in der Dortmunder-Nordstadt machten einige dieser Wegbereiter Hitlers Station.

Die Freikorpssoldaten der Brigade Oberland ermordeten hier 1920 einen Arbeiter, der verdächtig war, die demokratische Republik bewaffnet zu verteidigen. Dieselbe Brigade ging in der Elitetruppe Hitlers auf, die Gebirgstruppe, die an zahlreichen schweren Kriegsverbrechen der Wehrmacht beteiligt war. Tausende Kinder, Frauen, Greise waren ihre Opfer. Auch 6000 italienische Kriegsgefangene ermordeten sie. Aber als jetzt einer der Hunderte Mörder von der Staatsanwaltschaft Dortmund in München vor Gericht gestellt werden sollte, da wurde von der bayerischen Justiz das Verfahren eingestellt, weil der Massenmord kein Mord, sondern Totschlag und damit verjährt sei. Die ehemals verbündeten italienischen Opfer wurden als „Verräter“ und „Deserteure“ hingestellt, die man damals eben erschoss.

Rund um diesen Platz marschierte am 16. Oktober 1932 – drei Monate vor der Machtübertragung an Hitler - SA und NSDAP auf, doch die Arbeiter des Viertels wehrten sich, sie wollten die Demokratie verteidigen. Die Polizei der Republik verhinderte die Naziprovokation nicht, sondern schützte sie. Zwei Anwohner, Martha Gregarek und Ernst Raberg, starben unter Schüssen der Polizei, es gab 14 Verletzte. Auch heute stellt sich die Polizei nicht den neuen Nazis entgegen. Der Innenminister dieses Landes schrieb uns, der VVN-BdA, wer den Nazis bei zugelassenen Aufmärschen den Weg versperre, der werde mit Haft und Geldstrafen bestraft. Und Richter von heute sorgen dafür, dass Nazis marschieren dürfen.

Auf diesem Platz erschlug die SA Anfang September 1934 Opa Wille, einen alten Arbeiter, weil er etwas gegen das Hakenkreuz hatte und die Hakenkreuzfahne nicht grüßen wollte, sondern „Putzlappen“ nannte. Heute werden junge Antifaschisten bestraft, weil sie das Hakenkreuz durchstreichen und symbolisch in den Papierkorb werfen. Es existiert in Baden-Württemberg ein Oberstaatsanwalt Häußler, der sowohl die antifaschistisch durchgestrichenen Hakenkreuze bestraft, als auch den Kriegsverbrecherprozess gegen die Mörder von Sant’Anna di Stazzema/Italien zuständigkeitshalber verschleppt.

Rund um diesen Platz wohnten in den dreißiger Jahren 700 Jüdinnen und Juden. Fast niemand von ihnen lebte 1945 noch – das fanden Schülerinnen und Schüler der Martin Luther King- und der Anne Frank-Schule in ihrer Studie „Die Dortmunder Nordstadt zur Zeit des NS“ jetzt heraus. Und heute gibt es wieder das Schild „Ich bin am Ort das größte Schwein, ich lass mich nur mit Juden ein“ auf einem Schulhof in Sachsen-Anhalt. Das Wort „Jude“, so wird berichtet, ist das meist gebrauchte Schimpfwort auf Schulhöfen und Fußballplätzen.

In unserer Stadt lebten 1943 noch 2.850 Behinderte, die Hitlers Mordaktion „Euthanasie“ entkommen waren und die dann in „Ausweichkrankenhäuser“ rund um Dortmund verbracht wurden. Nur 420 der 2.850 Evakuierten kehrten nach 1945 zurück. Die allermeisten starben in den „Ausweichkrankenhäusern“ an Hunger und unmenschlicher Behandlung. Doch die Mörder wurden nicht belangt. Erst jetzt wieder wurde ein Massengrab mit 200 Opfern aus einem „Ausweichkrankenhaus“ in Menden hier in der Nähe gefunden. Erst jetzt geht die Justiz an die Ermittlungen heran. Niemand hatte bisher gefragt, wer ist für den Tod der evakuierten Behinderten verantwortlich, die nicht zurückkamen?

1945 schworen die befreiten Häftlinge des KZ Buchenwald auf dem Appellplatz: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Aber der Nazismus wurde nicht mit seinen Wurzeln ausgerottet. Hitlers Schatten verdunkelt unsere Gegenwart und Zukunft, wenn wir nicht auch diesen Satz des Schwurs von Buchenwald beherzigen: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht.“

Die Mörder der Arbeiter vom Nordmarkt, des Opa Wille, der Kinder aus dem Ausweichkrankenhaus Wickede, der Juden der Nordstadt, die Mörder der Italiener von Kephalonia und der Griechen von Kommeno werden wir anklagen und angreifen – und wenn die Mörder nicht mehr leben, dann ihr blutiges System. Denn das sind wir den Opfern des Faschismus schuldig.

Heute haben wir uns der Schlussfolgerungen der Nazigegner zu erinnern, die sie nach 1945 zogen: Sie haben damals die »vier Ds« zu ihrem Sofortprogramm gemacht: Denazifizierung, Demilitarisierung, Demonopolisierung - also Enteignung des Großkapitals - und schließlich die Demokratisierung der Gesellschaft. Das war für sie untrennbar, dafür haben sie gewirkt. Dafür stand auch die Gewerkschaftsbewegung. Sie wird am 21. Oktober hier in Dortmund für die Rechte der Arbeiter und der Arbeitslosen, der Rentner und der Kranken eintreten. Wir sind dabei und erinnern auch an das was hier geschah.