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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

15.08.06

Gedanken zum Streit um Günter Grass

"Diese Geschichte nagt an uns"

von Ulrich Sander 

Als Günter Grass 1999 den Literaturnobelpreis zuerkannt bekam, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die mich mit ihm verbindet, auch wenn er es gar nicht weiß und wir uns auch nicht kennen. Wir sind sicherlich oft unterschiedlicher Meinung - so auch zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Dass ich aber einmal die Vorlage geboten habe, die ihn veranlasste, einem jungen von den Nazis umgebrachten Antifaschisten seinen Leserinnen und Lesern als Vorbild zu empfehlen, das hat mich mit ihm verbunden. (...) Deshalb möchte ich die Geschichte von Helmuth Hübener kurz skizzieren, der 1942 als 17jähriger in Plötzensee enthauptet wurde, weil er angeblich die Wehrkraft zersetzte, den Hochverrat plante, den "Feind begünstigte" und tatsächlich ausländische Rundfunkmeldungen auf Flugblättern verbreitete. Ich hoffe sehr, daß das Nobelpreiskomitee auch an das Buch "Örtlich betäubt" gedacht hat, als es Günter Grass den Nobelpreis zuerkannte. Das 1969 erschienene Grass-Buch handelte von der 68er Jugend und ihren Lehrern. Als das Buch erschien, löste es größte Aufregung aus, weil ein 17jähriger Schüler darin das Verbrennen eines deutschen Langhaardackels als Protest gegen die Hinnahme des verbrecherischen Vietnam-Krieges der USA durch die westdeutsche Öffentlichkeit anpries. Der Schüler präsentierte eines Tages seinem Studienrat, der insgeheim hoffte, sein Lieblingsschüler würde ihn wegen seiner Vergangenheit als Jugendbandenführer zum Vorbild auserwählen, einen Zeitschriftenartikel aus der Gewerkschaftszeitung "Deutsche Post", 1967 erschienen. Der Autor war ich. Der Schüler Scherbaum verweist auf Helmuth Hübener, der sein Vorbild sei: "Das hat es gegeben. Da ist Ihre Jugendbande nix gegen. Über ein Jahr haben die Flugblätter gedruckt und verteilt. Schon als Sechzehnjähriger fing er damit an. Nix von Frühanarchismus. Der konnte stenographieren und sogar morsen." Weiter: "Scherbaum ging unbeirrt bei dem Verwaltungslehrling Hübener in die Lehre: `Der hat die Nachrichten des Londoner Rundfunks mitstenographiert.' ... Ich merkte mir den Journalisten, Sander, wollte ihn anschreiben. ... Nach der Urteilsverkündung soll Hübener den Richtern des Volksgerichtshofes einen Satz hinterlassen haben: 'Wartet, Ihr kommt auch noch dran!'"

Im weiteren Verlauf der Szene kommen der Lehrer und der Schüler auf den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zu sprechen, auf seine hohe Nazifunktion als Auslandsrundfunkchef des Auswärtigen Amtes, die er vor seiner CDU-Zeit bekleidete und auf seine Silberlocke und seine sanfte Beredsamkeit, die von Scherbaum zum Spitznamen Silberzunge zusammenfasst wird: "Wie alt war die Silberzunge eigentlich, als Helmuth Hübener hingerichtet wurde?" Da war er neunundzwanzig. "'Und der ist jetzt Kanzler.' - 'Man sagt, er habe eingesehen, inzwischen ...' - 'Und der darf jetzt wieder ...' - 'Man hatte keine Bedenken ...' - 'Der, genau der ...' Scherbaum begann leise zu explodieren: 'Den will ich nicht. Der stinkt doch. Wenn ich den sehe, im Fernsehen und so, könnte ich kotzen wie vor dem Kempinski. Der, genau der hat den Hübener umgebracht, auch wenn der anders hieß, der ihn umgebracht hat.'" Das alles hat Günter Grass aus dem "Deutsche Post"-Artikel gemacht! Leider wurde darüber wenig gesprochen, aber vielleicht war mein Helmuth Hübener mit der Grund für die Medienaufregung, die sich damals gegen Grass richtete? (aus: Sander "Jugendwiderstand im Krieg/Die Helmuth Hübener Gruppe 1941/42" Bonn 2002, Seite 54)

Später sagte Günter Grass über den Roman: "Der Helmuth Hübener war in Deutschland zu dem Zeitpunkt, zu dem ich den Roman schrieb, so gut wie unbekannt. Er ist es im Grunde bis heute geblieben. Die Orientierung läuft immer noch einzig an den großen Namen. Allein deswegen hat es mich auch gereizt, jemanden vorzukehren, der nicht mit Offiziershintergrund und Adel im Hintergrund tätig wurde oder auch ehemalige Politiker der Weimarer Republik, die von Anfang an zwar auch Widerstand geleistet haben, ich denke mal an Julius Leber, die auch hingerichtet worden sind. Das ist alles bekannt. Aber dieser Beitrag des Widerstandes von Hübener, der schien mir doch sehr wichtig." (aus dem DVD-Film "Truth and Conviction", 2002, Salt Lake City/USA)

Aus einem Interview der Zeitung "Unsere Zeit" (10. März 2006): 

US: Ja, es ist zwar die Erinnerung an die Opfer und die Täter wachgehalten worden, aber dabei blieb das Andenken an den Widerstand weitgehend ausgespart. Allein die bereits vor 1945 international bekannt gewordenen Widerstandskreise wie 20. Juli und Weiße Rose werden gewürdigt. Ganz erheblich sind die Defizite in der Darstellung des Arbeiter- und des Jugendwiderstandes. (...) Prof. Karl Heinz Jahnke (Rostock) hat in zahlreichen Publikationen seine 40jährigen Forschungsarbeiten besonders zum Jugendwiderstand bilanziert. Er hat 262 junge deutsche Widerstandskämpfer ermittelt, die zwischen 1933 und 1945 wegen ihres Widerstandes gegen das Dritte Reich ermordet worden sind; allein fast 50 junge Menschen außerhalb Münchens - Einzelkämpfer wie Organisierte - sind in der Zeit, da 1942/43 die Weiße Rose Widerstand leistete und dann exekutiert wurde, hingerichtet worden. (...) Die einseitige Betonung vor allem des 20. Juli und der Weißen Rose hat offenbar ihre Begründung in der gewollten Geringschätzung des Arbeiterwiderstandes durch die bürgerliche Geschichtsschreibung und in dem Versuch, den Widerstand als eine exklusive Handlungsweise großer Helden darzustellen, um von der eigenen Untätigkeit der Zeitgenossen abzulenken. Zitiert wurde auf einem Kolloquium der VVN-BdA und des Studienkreises Deutscher Widerstand die Schwester von Hans und Sophie Scholl, Elisabeth Hartnagel, die nicht möchte, dass ihre Geschwister als "Helden" verehrt werden, denn "das wäre eine Entschuldigung für die anderen", die sich nicht zum Helden geboren sehen."

Ergänzung aus heutiger Sicht, da nun so viele über Grass herfallen: 

Unter den zu Zeiten der Weißen Rose ebenfalls von den Nazis ermordeten jugendlichen Widerstandskämpfern war auch der von Günter Grass geehrte Helmuth Hübener. Über ihn sagt er in einem US-amerikanischen Film (der Hübener gewidmet ist! In Deutschland hat es nie einen Film über Hübener gegeben): "Diese Geschichte nagt an uns, die wir zu jung waren, um das ganz und gar kapieren zu können, aber doch alt genug waren, um die Symptome des Unrechts zu erkennen ... Warum haben wir nicht nachgefragt, warum sind wir nicht bohrender gewesen." **) Grass und Hübener waren fast gleichaltrig. Die Gleichaltrigen von damals handelten sehr unterschiedlich: Rudolf Augstein wurde noch im Krieg Journalist und umgab sich in der "Spiegel"-Redaktion mit den Leuten des SS-Reichssicherheitshauptamtes, die dort Naziverbrechen, z.B. den Reichstagsbrand, in Taten der Linken umfälschten. Helmut Kohl wusste von nichts und tat nichts und lehnte sich angesichts der "Gnade der späten Geburt" zurück, später rehabilitierte er die SS mit seinem Gang zum Friedhof Bitburg. Franz-Josef Strauß baute mit Hilfe der Waffen-SS und der Wehrmachtsgeneräle die Bundeswehr auf.*) Günter Grass meldete sich freiwillig zur Wehrmacht - was er nie verschwieg, was aber niemand ihm vorwarf! - und wurde dort zur Waffen-SS weitergereicht, wie Tausende auch. Letzteres verschwieg er, und das ist unentschuldbar. Aber Grass hat wenigstens auf jene aufmerksam gemacht, die handelten: So auf Helmuth Hübener! Über ihn hat kein Augstein geschrieben und kein Kohl und Strauß hat ihm einen Kranz gewidmet. Diese Generation hat den Jugendwiderstand 1933 bis 1945 verdrängt, weil er nachwies: Man konnte wissen und man konnte handeln. Grass hat immer wieder - nicht nur in "Örtlich betäubt" - den Jugendkonflikt aus dem Krieg thematisiert und das in einer antifaschistischen, Vorbild gebenden Weise. Ich bitte, ihm dies zugute zu halten. 

Anmerkungen 

*) Laut "Ministerialblatt des Bundesministers für Verteidigung" vom 1.9.1956 wurde in der Bundeswehr nicht nur die Übernahme und das Überspringen von Dienstgraden von Soldaten und Offizieren aus der Wehrmacht und der Waffen-SS ermöglicht, es wurde auch z.B. festgelegt, dass SS-Obersturmbannführer (das war der Dienstgrad z.B. von Adolf Eichmann), den Rang des Oberstleutnants bei der Bundeswehr erhalten sollten.

**) Aus dem Film/DVD "Wahrheit und Verurteilung" ("Truth and Conviction - The Helmuth Hübener Story") (Salt Lake City, Utah USA 2002)

Der DVD-Film aus den USA " Truth and Conviction - The Helmuth Hübener Story" kann bei HLT Buch Matthias und Christina Hund, Genholter Str. 108, 41379 Brüggen, 02163/575798 (Fax) oder unter matthias@mdhund.de ausgeliehen werden. Das Buch Sander "Jugendwiderstand im Krieg - Die Helmuth Hübener Gruppe 1941/42" ist bei Pahl Rugenstein 2002 in Bonn erschienen, es handelt u.a. auch vom Verhältnis des Günter Grass zum Jugendwiderstand.