10.07.06
Kein Schlußstrich per Schlusspfiff!
Interview mit Peter Gingold,
Bundessprecher der VVN-BdA, zu Fragen von Patriotismus und
Internationalismus nach der Fußball-WM
Die WM ist zu Ende. Siehst Du mit dieser
Fifa-Weltmeisterschaft ein gefährliches Anwachsen des
Nationalismus, hat nun das nationalistische Gedankengut der Neonazis
„Ich bin stolz eine Deutscher zu sein“ einen mächtigen
Auftrieb?
Natürlich waren die meisten Deutschfahnenschwenker keine
Nationalisten. Es war da diese Freude am Spiel, die Identifikation
mit der Nationalmannschaft wie wir sie in allen Ländern, aber auch
in den Fußballgemeinden der deutschen Großstädte kennen: Die
Freude an unserer Mannschaft, ob nun in der Stadt oder im Land. Das
war eher Love-Parade, Karneval, raus aus dem Alltagsleben.
Also Entwarnung? Da war nur Partyotismus, wie manche
Beobachter es nannten, weniger Patriotismus?
Dies auch nicht. Denn zusätzlich kräftig von den Medien
gestärkt wurde das, was längst da war: Die Kampagne für die
deutsche Leitkultur, die Kampagne von Prominenten „Du bist
Deutschland“. Man wollte volksgemeinschaftliche patriotische
Gefühle wecken, sich zu diesem Deutschland zu bekennen. Das wurde
natürlich mit der WM gefördert, das Wir-Gefühl, wir in einer
Volksgemeinschaft, endlich ohne Beklemmung sich zu Deutschland zu
bekennen. Und dann, immer wieder das Deutschlandlied zu singen, doch
nun stolz sein zu können, ein Deutscher zu sein. Das muss schon
Beklemmung auslösen.
Aber knüpft das nicht an ein verständliches wachsendes
Bedürfnis vieler Menschen an, in einer Gemeinschaft Geborgenheit zu
empfinden angesichts von diffusen und tatsächlichen Bedrohungen?
Ja, die Globalisierung wird als Bedrohung empfunden. Es gibt das
Gefühl, beherrscht zu sein von einer Fremdbestimmung, von einer
anonymen europäischen Macht. Da will man im eignen Land, in seiner
Nation geborgen sein. Natürlich hat die WM dem einen neuen Auftrieb
gegeben, wenn auch nicht alles nachhaltig sein wird nach Rückkehr
in den tristen Alltag.
Wie sollten die Linken, die Antifaschisten, die VVN-BdA dem
Rechnung tragen?
Wir dürfen uns jetzt nicht in unserer Reaktion in die Ecke der
„Antideutschen“ drängen lassen. Diese Losung „Nie wieder
Deutschland“, das kann nicht die unsere sein. Deutschland ist eine
Realität. Wir gehören zu diesem Land, wir haben in ihm
Verantwortung zu tragen. Wir sollten eine positive Antwort geben,
wie wir zu Deutschland stehen. Antwort auf diese Frage wird mir
immer wieder von Jugendlichen abverlangt. Wenn wir uns nicht ins
Abseits gestellt sehen wollen, dann stellen wir uns der Frage, was
für uns das eigene Land bedeutet, in dem wir leben und kämpfen,
was für uns national und nationalistisch ist, wie wir mit dem
Begriffen Vaterland, Vaterlandsliebe, Heimatliebe und Patriotismus
umgehen..
Und wie antwortest Du auf Deinen vielen Veranstaltungen? Auch
in der WM-Zeit hast Du ja vor Jugendlichen gesprochen, die sind
durchaus zahlreich erschienen.
Zunächst halte ich den „Antideutschen“ immer wieder
entgegen: Von Karl Liebknecht kam nicht der Spruch: „Der Feind ist
das eigene Land“. Sondern: „Der Hauptfeind steht im eigenen
Land!“. Das heißt, alles Reaktionäre, die Kriegstreiber im
eigenen Land zu bekämpfen. Oft werde ich gefragt, wie konntest Du
in dieses Land wieder zurückkehren, gleich nach der Befreiung, nach
all dem, was dies der Welt, der jüdischen Bevölkerung angetan
hatte, - fast meine gesamte Verwandtschaft wurde ja ausgerottet, vor
jenem Deutschland musste ich damals mein zweijähriges Kind
verstecken. Ich bin deshalb zurück gekommen, um mit allen anderen
überlebenden Opfern mitzuhelfen, damit ein anders Deutschland
entsteht, wie es Johannes R. Becher und Bert Brecht in ihren
Nationalhymen ausdrückten. Das sah ich als Deutscher als meine
nationale Pflicht an. Zugleich war es und ist es eine Pflicht des
Internationalismus, dass von diesem Land keine Bedrohung anderer
Völker ausgehen kann. Da kann es keinen Widerspruch geben zwischen
Nationalem und Internationalismus. Wenn ich es als Pflicht als
Deutscher, als Kommunist aus jüdischer Familie begreife –
meinetwegen als nationale Pflicht begreife -, im eigenen Land für
den Fortschritt zu kämpfen, ist es zugleich meine
internationalistische Pflicht. Andererseits ist es zum Wohle des
eigenen Landes, dass wir alles, was es in anderen Ländern an
fortschrittlichen Bewegungen gibt, unterstützen. Das zeichnete die
Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Parteien aus.
Woran denkst Du im Besonderen?
Die Deutschen in den Internationalen Brigaden in Spanien mit
ihrem Spanienlied „Die Heimat ist weit“, sie kämpften zugleich
für die Heimat, auch die Deutschen in allen nationalen
Befreiungsbewegungen in den von der Hitlerarmee besetzten Ländern
Europas. Als ich bei der Zeremonie zum 60. Jahrestag der Landung in
der Normandie eingeladen war und ich den ebenfalls eingeladenen
ehemals deutschen Offizieren sagte, unter ihnen sei mit mir ein
Deutscher, der jene vertritt, die an der Seite der Résistance
kämpften, bekam ich zur Antwort: „Da haben Sie gegen Deutschland
gekämpft!“ Ich antwortete ihnen: Für uns war es zugleich ein
Kampf, um Deutschland vom Krieg und von Hitler zu befreien. Die
meisten von uns, die wir in den nationalen Befreiungsbewegungen
Europas den Internationalismus praktizierten, hatten Sehnsucht nach
unserer Heimat. Man kann es Heimatliebe nennen. Als ich, zurück in
meiner Geburtsstadt Aschaffenburg, in der ich meine Kindheit
verbrachte, nur einen Trümmerhaufen sah, das so herrliche,
majestätische Schloss, vor dem ich so gerne verweilte, in Ruinen,
da war ich erschüttert und schämte mich meiner Tränen nicht. Ich
erinnere mich der berühmten Rede von Anna Seghers auf dem
internationalen Schriftstellerkongress in Paris 1935 über Heimat-
und Vaterlandsliebe, über unsere Landschaften, über das Gefühl,
endlich um uns herum die Laute der deutschen Sprache zu vernehmen,
den Geruch der Erde zu spüren.
Als Du an der Spitze der Demonstration von fünfzehntausend
zumeist Jugendlichen am 8. Mai voriges Jahr zum Alex gingst, um den
Aufmarsch der Neonazis in Berlin zu verhindern, die Unter den Linden
marschieren wollten, Du vorneweg mit einem herrlichen Blumenstrauß,
den man dir wegen deiner Rede in die Hand gedrückt hatte, hinter
Dir eine große Gruppe von Demonstranten mit ihrer Losung „Nie
wieder Deutschland!“, was war da Dein Eindruck?
Das fragten mich auch Journalisten und Fernsehleuten in der
Annahme, dass ich mich mit denen identifiziere. Sie fragten, wie ich
zu Deutschland stehe. Meine Antwort war, dass ich für die jungen
Leute viel Verständnis habe, wenn sie damit meinen, nie wieder ein
Deutschland, das soviel Schrecken über die Welt brachte,
zuzulassen. Schade, dass sie es nicht so ausdrücken. Ich selber
steh zu dem Deutschland der großen Dichter und Denker, das von
Goethe und Schiller, von Feuerbach und Marx und Engels, der großen
Komponisten, dieses Deutschland, das die Welt um soviel an Kultur
und Wissenschaft bereicherte, das der Bauernkriege, der Revolution
von 1848, der Novemberrevolution von 1918 und vor allem des
deutschen antifaschistischen Widerstandes. Das ist für mich das
Deutschland. Soweit meine Antwort.
Also bist Du doch ein deutscher Patriot?
Ich bin kein deutscher Patriot, auch wenn Frau Merkel es nun noch
so sehr von uns allen wünscht. Mit der Entstehung Deutschlands war
der Patriotismus im Unterschied zu dem anderer Nationen geprägt vom
Nationalismus, vom Hass, von Überheblichkeit und Aggression gegen
andere Völker, geprägt vom Rassismus, der unter Hitler seinen
Höhepunkt fand als das Vorrecht einer Eliterasse, sich
verbrecherisch gegenüber allen anderen Völkern verhalten zu
können, sie auszuplündern, zu versklaven, sie mit Massenmord vom
Erboden verschwinden zu lassen. Doch einmal konnte ich im Krieg
Patriotismus in den Mund nehmen, als ich sagte, der einzige legitime
Patriotismus ist der, dem eigenen Land die Niederlage zu bereiten.
In anderen Ländern, auch auf Grund ihrer Geschichte, hat der
Patriotismus einen ganz anderen Klang.
Dies gilt besonders für Frankreich und Italien? Du hast ja
sowohl in Deutschland als auch in Frankreich und Italien am
antifaschistischen Widerstandskampf teilgenommen.
Ja. Die Deutschen, die dort in der Résistance und bei den
Partisanen kämpften, waren als Ausländer die Patrioten ihres
Landes. Als ich während des Aufstands in Paris in dem bereits
befreiten Viertel unsere damalige Wohnung aufsuchte, die Concierge
(Hausmeisterin) mir als Erste begegnete, die wusste, dass ich an der
Résistance teilnahm, da empfing sie mich als Ausländer mit den
Worten: “Vous êtes un grand Patriot!“. Zum 60.Jahrestag der
Landung in der Normandie gab „Le Monde“ eine Sonderausgabe
heraus, mit dem Titel: „Die Patrioten und Befreier Frankreichs“,
darunter das Porträt von drei Deutschen, u.a. auch meines. Auch als
vor einiger Zeit in ARTE der Film über die Deutschen in der
französischen Résistance lief, hatte er den Titel „Fremde als
Patrioten in Frankreich“.
Frankreich hat die Weltmeisterschaft ebenso wenig gewonnen wie
Deutschland, aber dennoch will man uns nun einreden, wir seien die
Größten und Besten. Gewonnen hat Italien. Woran denkst Du da?
Zunächst mal ist allen zu gratulieren, die gewonnen haben und
allen die faire und schöne Spiele boten. Mir fällt auf, dass viel
Freundliches über Italien geschrieben und gesagt wird, aber es ist
wie in der Innenpolitik, in der man hinter dem schönen Schein uns
während der WM schlimme soziale Verschlechterungen bescherte. Auch
gegenüber Italien wird verschwiegen, dass noch manche berechtigte
Rechnung aus dem Süden offen ist. Zum Beispiel mussten die Massen,
die in Dortmund zum Italienspiel gingen, an der Westfalenhalle
vorüber. Dort hat man bisher versäumt, ein Schild anzubringen, das
darauf hinweist, wie sehr auch italienische Sklavenarbeiter im
Stalag in der Westfalenhalle gelitten haben. Viele kamen während
der Bombardierungen ums Leben. Die italienischen Überlebenden
wurden leider von der Bundesregierung zu Kriegsgefangenen erklärt,
und - da kriegsgefangene Zwangsarbeiter nicht berechtigt seien,
Entschädigung zu empfangen - von der Zwangsarbeiterentschädigung
ausgeschlossen. Zudem blieben bis heute bei uns alle während des
Krieges von Deutschen an Italienern verübten Kriegs- und
NS-Verbrechen ungesühnt, so dass die italienischen Gerichte nun
dazu übergingen, die betreffenden ehemaligen SS- und
Wehrmachtssoldaten in Italien vor Gericht zu stellen. Die dortigen
Gerichte sprachen Höchststrafen aus; da aber die Angeklagten nicht
ausgeliefert wurden, leben sie noch immer unter uns. Wir haben
kürzlich vor den Häusern der in Italien Verurteilten demonstriert
und ihre Bestrafung bzw. Überstellung an die italienische Justiz
verlangt. In Dortmund sitzt auch die Zentralstelle der
Staatsanwaltschaft für NS-Massenverbrechen, die zuständig ist für
die Verfolgung der Morde an 5000 italienischen Kriegsgefangenen im
September 1943 auf der griechischen Insel Kephallonia, - auch dieser
Fall kommt nicht voran. Ich frage: Soll mit dem "positiven
Patriotismus", der "nicht mit dem Endspiel vorbei
sein" darf , so die Politiker und viele Medien, nun endgültig
die Geschichte im schwarz-rot-goldenen Fahnengetümmel untergehen?
Schlußstrich per Schlußpfiff? Das dürfen wir nicht zulassen.
Interview: Ulrich Sander
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