12.06.06
Es gibt keine Freiheit für die Mörder
Gelsenkirchen: Rede auf der antifaschistischen
Kundgebung gegen den NPD-Aufmarsch
von Alice Czyborra, VVN-BdA
Essen
Die Weltmeisterschaft sollte eigentlich ein großes Fest werden
für Gäste wie Gastgeber. Heute erleben wir den Aufmarsch einer
braunen Horde in Gelsenkirchen, wo gestern die polnische Mannschaft
spielte. Wie muss es den polnischen Gästen ergehen und all
denjenigen Polen, die am Bildschirm verfolgen, was sich in
Gelsenkirchen heute abspielt? Vor einem Jahr haben die europäischen
Teilnehmer an der WM den 60. Jahrestag der Befreiung vom deutschen
Faschismus gefeiert, den Sieg über die faschistische Wehrmacht, die
in ihren Ländern verbrannte Erde und Millionen und Abermillionen
Tote hinterlassen hat. Wie viel Leid hat der deutsche Faschismus den
europäischen Völkern bereitet! Bis heute ist das nicht vergessen.
Die Menschen aus aller Welt, die jetzt auf unser Land blicken,
sie erfahren, dass Rechtsextremisten mit rassistischen,
antisemitischen, volksverhetzenden, nationalistischen Parolen durch
unsere Städte marschieren, als hätte es niemals Auschwitz,
Treblinka und Majdanek gegeben. Auch Angehörige meiner Familie
wurden in Auschwitz ermordet. Wir Kinder konnten der Deportation
entkommen, weil wir von mutigen französischen Familien versteckt
wurden.
Meine Eltern sind wie viele Emigranten nach Deutschland
zurückgekehrt, mit dem Ziel aller Überlebenden der
Konzentrationslager, der Zuchthäuser und des Strafbataillons 999,
nie wieder zuzulassen, dass von Deutschland ein Krieg ausgeht. Dass
keinerlei nazistisches Gedankengut, keinerlei nazistische
Organisationen, keinerlei Aktivitäten dieser reaktionären Kräfte
in Deutschland erlaubt sein dürfen – das ist im Potsdamer
Abkommen festgeschrieben, das ist Völkerrecht, das ist in
UNO-Dokumente eingeflossen, und das steht im Grundgesetz.
Für uns unfassbar ist es, dass sogar vor den Augen der
Weltöffentlichkeit, das Bundesverfassungsgericht das Verbot des
Gelsenkirchener Polizeipräsidenten aufgehoben hat. Es hat die
Aufhebung des Aufmarschverbotes der NPD damit begründet: „Das
Ansehen Deutschlands beruhe besonders auf der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung, für die auch die
Meinungs- und Versammlungsfreiheit bestimmend sei.“ Man muss sich
das mal vorstellen: Das Ansehen unseres Landes beruht auf der
Errungenschaft der freien Entfaltung der Faschisten, der Nazis, die
schon wieder eine Blutspur durch Deutschland gezogen haben. Über
120 Todesopfer der Nazis sind seit 1990 zu beklagen.
Das Bundesverfassungsgericht hat erklärt, solange die NPD nicht
verboten ist, solange muss sie auch demonstrieren dürfen. Ja, dann
verbietet sie doch endlich!
Die Geschichte lehrt uns: Genau mit diesem unheilvollen
Demokratieverständnis ist die Weimarer Republik untergegangen, als
denen die Freiheit gegeben wurde, die sich als die schlimmsten
Feinde der Freiheit erwiesen haben. Sie haben dann das größte
staatlich organisierte Verbrechersystem gegen Frieden und
Menschlichkeit errichtet.
Es gilt das Wort des ersten NRW-Ministerpräsidenten Rudolf
Amelunxen, der vor der VVN-BdA-Gründungskonferenz vor 60 Jahren
sagte, „dass es keine Freiheit gibt für die Mörder, für die
Mörder der Freiheit.“
In einem Appell der VVN-BdA an die Jugend rufen
Widerstandskämpferinnen und Widerstandkämpfer auf: Nicht wegsehen,
wenn Unrecht geschieht, wenn Menschenrechte verletzt werden, nicht
hinnehmen, wenn Nazismus, nationaler Größenwahn, rassistische
Vorurteile, Militarismus aufflammen. Seid höllisch wachsam, mahnen
sie, damit es nie wieder zu einer ähnlich braunen Barbarei, nie
wieder zu Faschismus und Krieg kommt. Sie, die ihr Leben lang gegen
den Faschismus gekämpft haben, schöpfen ihren Optimismus von den
vielen jungen Antifaschistinnen und Antifaschisten, die sich den
Neonazis entgegenstellen und die auch heute hier in Gelsenkirchen
ihren Protest demonstrieren.
Auch wenn die Kameras und Mikrofone internationaler Journalisten
nicht mehr auf Deutschland gerichtet sind, wir werden so lange gegen
die Aufmärsche der NPD, der braunen „Freien Kameradschaften“
demonstrieren, bis sie von unseren Straßen verschwinden. Wir werden
alles dafür tun, bis endlich die NPD und andere rechtsradikale
Parteien und Organisationen verboten sind.
Den Nazis kein Fußbreit
Alice Czyborra und Ulla Richter zu
der Gelsenkirchner Nazi-Demo und Erfahrungen der antifaschistischen
Arbeit in Dortmund
Dokumentiert aus Unsere
Zeit Nr. 24 vom 16. Juni 2006
Interview mit Alice Czyborra (DKP), Mitglied der VVN, und Ulla
Richter (DKP), Gründungsmitglied des Bündnisses Dortmund gegen
Rechts und Mitglied im Sprecherrat.
UZ: Alice, du hast in deiner Rede auf der Anti-Nazi-Demo am
Samstag in Gelsenkirchen das Bundesfassungsgericht gerügt. Was hat
es damit auf sich?
Alice Czyborra: Das Oberverwaltungsgericht in Münster hatte die
Nazi-Demonstration verboten. Als Grund hat es die Gefährdung der
Sicherheit angegeben. Allerdings hat das selbe Gericht bereits im
Jahr 2001 eine politische Begründung abgegeben, in der es heißt:
"Zu den Anschauungen der NPD gehören Rassismus, Antisemitismus
und Ausländerfeindlichkeit. Derartige Anschauungen sind mit
grundgesetzlichen Wertvorstellungen unvereinbar. Sie lassen sich
nicht als politisch unerwünscht oder missliebig bagatellisieren und
wie jede andere Ausübung eines für die Demokratie konstutierenden
Freiheitsrechts einstufen." Auf diesen Beschluss kann man immer
wieder zurück kommen. Unser Unverständnis ist, dass das
Bundesverfassungsgericht nicht darauf zurück greift. Notwendig
wäre doch ein Verbot und eine Auflösung dieser Partei, weil die
NPD wider das Grundgesetz handelt, wider das Potsdamer Abkommen und
eigentlich gar nicht legal sein dürfte.
UZ: Kann man die Anti-Nazi-Demonstration in Gelsenkirchen als
Erfolg bezeichnen?
Alice Czyborra: Es hat verschiedene Aktionen gegeben. Die Nazis
sind nicht bis in den Arbeiterstadtteil Ueckendorf vorgedrungen. Es
hat eine Blockade der Einwohner und Demonstranten gegeben und die
Nazis sind gestoppt worden und mussten ihren Marsch abbrechen. Von
daher war das ein großer Erfolg.
UZ: Gab es eine Beteiligung von ausländischen Mitbürgern und
Fußballfans?
Alice Czyborra: Es haben sich an unserer Demonstration des
Bündnis gegen Rechts sehr viele türkische Bürger beteiligt, die
in Gelsenkirchen leben, die sehr engagiert und lautstark protestiert
haben. Es gab auch eine Reihe von Gästen - man konnte das sehen an
ihrem Gepäck - Fußballgäste aus Polen, die sehr aufmerksam und
empört den Aufmarsch der Neo-Nazis beobachteten haben und uns
unterstützt haben.
UZ: Ulla, ihr habt in Dortmund schon sehr lange Erfahrungen mit
der Präsenz von Nazis. Die letzte Nazi-Demonstration in Dortmund
musste abgebrochen werden. Wie kam es dazu?
Ulla Richter: Die Nazis hatten zum 28. 1., einen Tag nach dem
Holocaustgedenktag, eine Demo angemeldet. Das Bündnis Dortmund
gegen Rechts hat einen Tag davor mit einer Kunstaktion in der
Dortmunder Innenstadt viele Menschen um sich versammelt, u. a. auch
den DGB und die Kirchen, um ein großes Bild zum Holocaust:
schwarzes Tuch, weiße Koffer, weiße Schuhe, die daran erinnerten,
wie die Menschen ins Gas geschickt worden sind. Am nächsten Tag,
als die Nazis doch marschieren durften - auch damals hatte der
Polizeipräsident die Demonstration verboten, das
Oberverwaltungsgericht Münster hat das Verbot bestätigt und das
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat es wieder aufgehoben -
haben wir eine Gegendemonstration organisiert. Mit unterschiedlichen
Demonstrationszügen hat sich das Bündnis Dortmund gegen Rechts mit
dem DGB-Bündnis aufgestellt und ein von überwiegend Jugendlichen
getragenes Autonomen-Bündnis hat Blockaden organisiert. Gut war,
dass sehr viele Gegendemonstranten da waren und die Nazis durch die
verschiedenen Demonstrationen und Blockaden nur eine sehr kleine
Strecke laufen konnten.
UZ: In Dortmund besteht ein Nazi-Zentrum. Die Nazis rufen in
Dortmund Stadtteile zu sogenannten befreiten Zonen aus. Was wird von
eurem Bündnis dagegen unternommen?
Ulla Richter: Das Nazi-Zentrum ist ein Laden, der in einem armen
Wohngebiet liegt, in dem sehr viele Migranten leben. Dort haben wir
bereits vor drei Jahren mit einer Demonstration auf den Laden
aufmerksam gemacht. Jetzt haben wir eine monatelange Kampagne gegen
den Naziladen "Donnerschlag" geführt. Angefangen mit
einem Info-Abend über Naziläden, mit einer großangelegten
Flugblatt- und Plakataktion im Stadtteil, mit jeder Menge
Infoständen, mit einer Plakatwand, auf der die Köpfe der
bekanntesten Neo-Nazis in Dortmund gezeigt wurden. Dabei sammelten
wir. über 2 000 Unterschriften gegen den Nazi-Laden und übergaben
sie dem Rat der Stadt. Der Abschluss dieser ganzen Kampagne war eine
Demonstration am 20. Mai. Nicht beteiligt haben sich leider - obwohl
wir darum geworben haben - die "Anständigen", also der
DGB, die Kirchen und die AWO. Aber die Demonstration war mit 1 500
Leuten, vor allem ganz jung, ganz laut und ganz fröhlich. Wir
konnten viele Bürger aus dem Stadtteil gewinnen und viele
Schülerinnen und Schüler.
UZ: Welche Schlussfolgerung sind aus euren Erfahrung zu ziehen
und wie kann man Erfolge gegen die Nazis organisieren?
Ulla Richter: Eine Arbeit gegen die Nazis muss langfristig
angelegt werden. Wichtig ist die antifaschistische Arbeit mit langem
Atem und sehr offensiv. Dazu gehört Aufklärungsarbeit. Wir
sprechen besonders die Jugend an, wir arbeiten beispielsweise mit
den "Schulen gegen Rassismus" zusammen, den Jugendzentren
und allen, die mit Jugendlichen arbeiten, weil die Nazis ihren
Schwerpunkt auf junge Leute legen. Der Nazi, der in Dortmund einen
Punker ermordet hat, war 17.
Also eine langfristige Kampagne, mit dem Schwerpunkt Aufklärung.
Vor allem regelmäßig wie die Antifa-Gespräche alle zwei Monate,
die sehr gut ankommen. Wir haben oft 50 bis 70 Leute im Saal
versammelt. Unser Markenzeichen sind auch Kunstaktionen wie die
Scherbenspur am 9. November: eine lange schwarze Stoffbahn mit
Scherben belegt, dazu jiddische Musik und Texte, die Schülerinnen
und Schüler sprechen. "Den Opfern einen Namen geben" war
eine weitere Kunstaktion: Es wurden die Umrisse von 130
Neonazi-Opfern, ihre Namen und Todesdaten in der Innenstadt aufs
Pflaster gemalt. Wir suchen immer das Gespräch mit den
"Anständigen", sind aber nicht immer erfolgreich, weil
wir ihnen zu "offensiv" sind. Wir meinen, Antifa-Arbeit
muss offensiv sein, damit solche Nazi-Sprüche wie "Dortmund
ist unsere Stadt" konterkariert werden.
Die Gewaltbereitschaft der Nazis nimmt in Dortmund zu. Das wurde
vor kurzem deutlich bei dem Überfall auf eine Linke-Szene-Kneipe,
wo 20 Neo-Nazis, bewaffnet mit Baseball-Schlägern, die Fenster kurz
und klein geschlagen und die Besucher der Kneipe mit Reizgas
besprüht haben. Jetzt sind endlich auch der Rat der Stadt und die
Bezirksvertretung hellhörig geworden. Sie und wir gehen davon aus,
dass der Überfall aus dem Nazi-Laden heraus organisiert worden ist.
Von städtischer Seite aus wird jetzt versucht, Vermieter zu warnen
und ein Quartiersmanagement einzurichten. Das ist auch ein Erfolg
unserer offensiven Antifa-Kampagnenarbeit.
Die Fragen für die UZ stellte Wolfgang Teuber
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