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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

01.02.06

"... aber weit schlimmer sind die Zustände, die diese Naziumtriebe überhaupt ermöglichen"

Rede zur Gedenk- und Protestkundgebung vor dem Landgericht Wuppertal am 30. Januar 2006, 10 Uhr

Am Montagmorgen, den 30.01.2006, fand eine Gedenk- und Protestkundgebung in Wuppertal vor dem Gerichtsgebäude statt. Der Antifaschist und Historiker (Angreifbare Traditionspflege) Stefan S t r a c k e war per Strafbefehl zu einem halben Jahr Gefängnis mit Bewährung verurteilt worden, weil er kleine unangemeldete Versammlungen bzw. Wortmeldungen zwecks antifaschistischer Aufklärung, Verlesung der Namen von deportierten jüdischen Kindern, Störung des Neonazis Worch durchführte. Gegen diesen Strabefehl, der nicht rechtskräftig ist, wird weiter protestiert. Am 13. Februar um 13.30 geht das Verfahren weiter. Ein bisheriger Beobachter: "Es sieht eigentlich danach aus, dass die Anklage zusammenbricht". 

Im Folgenden das Grußwort von Ulrich Sander, Bundessprecher der VVN-BdA, an die Gedenk- und Protestkundgebung:

Liebe antifaschistische Freundinnen und Freunde!

Am 27. Januar 1945 wurden die wenigen Überlebenden des KZ Auschwitz von der Roten Armee befreit. Die Befreiung Europas vom deutschen Faschismus begann. Auf den Tag genau 61 Jahre später genehmigte das höchste deutsche Gericht Nazidemonstrationen für das Recht der Faschisten auf Volksverhetzung, auf die Auschwitzlüge, auf Propaganda für braune Gewalt.

Das ist für uns unfassbar. Aber es ist nur dann unfassbar, wenn nicht daran erinnert wird, dass es nicht nur das Ende des deutschen Faschismus, sondern auch seinen Anfang gab, aus dem nicht die richtigen Lehren gezogen wurden. Um aus der Geschichte zu lernen, ist es notwendig, den Blick auch auf den zweiten Jahrestag, den 30. Januar, zu richten, den Tag an dem die Nazibarbarei 1933 im Staat durchgesetzt wurde.

Der Nationalsozialismus war kein blindes Schicksal und Hitler kein Betriebsunfall der Geschichte. Hinter ihm standen Industrielle und Bankiers. Von Thyssen bis Krupp, von Haniel bis Siemens, von Schröder bis Bosch, von Flick bis zum Verleger Hugenberg. Die NSDAP, die, wie heute die NPD, 1928 noch eine Splitterpartei gewesen ist - mit 2,6 % Wählerstimmen bei den Reichstagswahlen - , wurde auch mit Hilfe bereitwilliger Sponsoren aus Industrie- und Bankkreisen zur stärksten Partei. Sie haben Hitler finanziert, um Rohstoffquellen zu erobern, um neue Absatzmärkte zu sichern, um Rüstungsprofite zu machen. Dieser Zusammenhang, der heute allzu gerne verdrängt und verschwiegen wird, muß im Blick behalten werden. Im Blick behalten wir auch eine Justiz, die den Nazis half, wo sie nur konnte.

Wir warnen daher vor politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik, die an die Endzeit der Weimarer Republik erinnerten. So gleichen viele Aussagen der Unternehmerverbände heute bis in den Wortlaut hinein den Forderungen ihrer Vorgängerorganisationen in der Weimarer Republik. Die direkt in die Katastrophe einmündende, völlig verfehlte Wirtschaftspolitik der Weimarer Republik wird heute unter modern klingenden Namen neu aufgewärmt. Wo der Sozialstaat mit der Abrissbirne abgeräumt werde, findet zwangsläufig eine Brutalisierung der Gesellschaft statt, die Nazis neuen Zulauf verschafft. Dies bestätige auch das Wahlergebnis für die NPD bei der Bundestagswahl. Die Neonazipartei war bei männlichen Jungwählern zwischen 18 und 25 Jahren auf insgesamt 5,5 Prozent gekommen.

Doch nicht nur die Wirtschaftspolitik, vor allem auch die Kriegspolitik Deutschlands und dann auch die diese Politik abstützende Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaften müssen wir im Blick behalten.

Es gibt einerseits die Leitung des Landgerichts, die gemeinsam mit der Gewerkschaftsbewegung und den Antifaschisten dieses Denkmal zur Erinnerung an die Gewerkschaftsprozesse aufstellte. Es gibt auch die hohen Oberverwaltungsgerichte fast aller Bundesländer, die inzwischen bekundet haben, dass eine rechtsextreme Ideologie auch nicht mit den Mitteln des Versammlungsrechtes zu legitimieren ist. Doch der justizpolitische Mainstream im Lande wird vom Bundesverfassungsgericht geprägt, dem Retter in der Not für die Faschisten.

Die VVN-BdA, die 1946 in NRW von den Vertretern der 50.000 Überlebenden des Widerstandes und des Naziterrors im Lande gegründet wurde, ruft die Antifaschisten auf, gegen diese Justiz Widerstand zu entwickeln.

Hier in dem Gebäude mit dem antifaschistischen Denkmal davor soll heute ein - sagen wir es offen – profaschistischer Prozeß beginnen. Ja, die anhaltende Kriminalisierung von Antifaschisten, wie heute im Falle unsere Freundes Stefan Stracke, ist eine dem neuen rechten Unrecht dienende Handlungsweise der Justiz, die wir immer wieder beobachten müssen. Antifaschistische Erinnerungsarbeit wird ebenso kriminalisiert wie die notwendige Aufklärung über die Neonazis. Die Selbstverständlichkeit, an jedem Ort die freie Debatte über und den Protest gegen neue und alte Nazis zu entfalten, soll bestraft werden. Die Wahrheit über Auschwitz und über die Rolle der deutschen Industrie, der Banken und auch der Reichsbahn soll unterdrückt werden.

Da wird der Paragraph 21 des Versammlungsgesetz zugunsten der Neonazis ausgelegt und antifaschistische Protest als verbotene "Störung" der Nazis verurteilt. Da werden Computer beschlagnahmt, nachdem Nazis und Neonazis Anzeige gegen die Besitzer - VVN-Leute, Gewerkschafter, Journalisten usw. - erstattet haben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Inhalt den Nazis zugänglich gemacht wird per Akteneinsichtsrecht. Da werden Kranzniederlegungen einer fünfköpfigen Gruppe von Kommunisten, VVN-Leuten und Juden in Bochum-Wattenscheid zu verbotenen, weil nicht angemeldeten Versammlungen erklärt, was Bestrafung nach sich zieht. Da wird das neuerliche Verbot für Nazis, an Gedenkstätten zu demonstrieren, ausgelegt als ein Verbot für Antinazis an militaristischen und kriegsverherrlichenden Denkmälern zu demonstrieren, so geschehen am Gebirgsjägerdenkmal in Mittenwald. In München hat die Staatsanwaltschaft der Polizei den Tipp gegeben; einen Aufmarsch an der Feldherrenhalle zu erlauben, weil dies keine Stätte der Erinnerung an den NS sei; das Gesetz beschränke ein Versammlungsverbot auf Stätten des NS von 1933 bis 1945, sagte der Staatsanwalt. Empörend ist auch die juristische Verfolgung und Aburteilung von jungen Antifaschisten, die ein durchgestrichenes Hakenkreuz auf ihrer Kleidung tragen.

Bei der Auseinandersetzung mit der gewaltsame Ideologie und Praxis des Neofaschismus kommt es aber angesichts der über 200 Todesopfer rassistischer und faschistischer Übergriffe seit 1990 gerade auf die Zivilcourage jedes Einzelnen an. Lassen wir nicht ab von dieser Zivilcourage. Wir fordern Schluß mit der Verfolgung von Stefan Stracke.

Unser Freund Peter Gingold sagt stets in seinen aufrüttelnden Reden: Dass es diese Naziumtriebe gibt, ist schlimm, aber weit schlimmer sind die Zustände, die Politiker, die Richter und Staatsanwälte, die diese Naziumtriebe überhaupt ermöglichen.

Deshalb begrüßen wir Eure Kundgebung und wir grüßen Stefan Stracke. Wir stehen an Eurer Seite. Wenn alle Antifaschistinnen und Antifaschisten zusammenstehen, können die Neonazis und ihre Helfer nicht durchkommen.

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA)