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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

05.09.05

"Bei den nordrhein-westfälischen Kameradschaften liegen aber keine verbotsfähigen Strukturen im Sinne des Vereinsgesetzes vor" 

Antwort des Innenministeriums NRW auf einen Brief der VVN-BdA NRW an den neuen NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers

Unten steht ein Briefwechsel zwischen VVN-BdA NRW und der NRW-Staatskanzlei bzw. dem Büro des neuen Ministerpräsidenten. Jetzt erhielten wir den nachstehenden Brief des Innenministeriums NRW.

I.

Abschrift

Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 
Haroldstr. 5, 40213 Düsseldorf
Postfach 103013 Düsseldorf


8. August 2005

VVN-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten NRW
Gathe 55
42107 Wuppertal


Ihr Schreiben vom 04. Juli 2005 an den Ministerpräsidenten
Aktenzeichen 68.36-21130-2777/06



Sehr geehrter Herr Sander,

wie Ihnen bereits schriftlich mitgeteilt, hat mir die Staatskanzlei Ihren o.g. Brief zur Beantwortung übermittelt. Für Ihre Ermutigungen im demokratischen Bestreben, die Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus zu beherzigen und den Rechtsextremismus zu bekämpfen, danke ich Ihnen.

Soweit Sie in Ihrem Schreiben auf die Arbeit des Verfassungsschutzes abstellen, möchte ich hervorheben, dass der Verfassungsschutz in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie wie der unseren, die selbst der verfassungsfeindlichen politischen Betätigung einen politischen Freiheitsspielraum lässt, ein notwendiges Instrument zum Schutz der Demokratie ist.

Vereinsverbotsverfahren gegen politische Gruppierungen, wie von Ihnen gefordert, sind nur unter engen gesetzlichen Voraussetzungen möglich.

Bei den nordrhein-westfälischen Kameradschaften liegen aber keine verbotsfähigen Strukturen im Sinne des Vereinsgesetzes vor. Die Sachverhalte, die den kürzlich erfolgten Vereinsverboten in Berlin und Brandenburg zugrunde lagen, sind nicht auf die neonazistischen Kameradschaften in Nordrhein-Westfalen übertragbar. Gleichwohl legen Polizei und Verfassungsschutz auch weiterhin ein besonderes Augenmerk auf diese Kameradschaftsszenen. Hierzu gehört auch die ständige Prüfung, ob sich Gründe ergeben, die ein Vereinsverbot rechtfertigen können. Hinsichtlich des von Ihnen angesprochenen Demonstrationsverbots rechtsextremistischer Gruppierungen hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtssprechung die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit als hohes Rechtsgut bestätigt und in Einzelfällen Entscheidungen des OVG Münster aufgehoben.

Die Bekämpfung von Erscheinungsformen des Rechtsextremismus durch Verfassungsschutz, Polizei und Justiz sind nur ein Schritt, um dem Rechtsextremismus entgegenzutreten. Wichtiger ist die präventive Tätigkeit durch politische Aufklärung und gesellschaftliche Ausgrenzung der extremistischen Positionen. Hier sind nicht nur die Politiker aller demokratischen Parteien und alle gesellschaftlichen Institutionen gefordert, sondern auch jeder Einzelne in seinem familiären, beruflichen und sozialen Umfeld ist dazu aufgerufen, für die im Grundgesetz verankerten Grundprinzipien des freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats und für die Grundrechte einzutreten.

Mit freundlichen Grüßen

im Auftrag

(Unterschrift Brandt-Zimmermann)

II.

Briefe, in denen antifaschistisches Regierungshandeln eingefordert wird, übergibt der neue Ministerpräsident Rüttgers sofort dem Verfassungsschutz?

Nachstehend der Text unseres Briefes vom 4. Juli 2005 an die neue Landesregierung von NRW zur Kenntnisnahme. Ferner ganz unten die Antwort darauf:

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, wir wünschen Ihnen eine glückliche Hand in Ihrer Regierungsarbeit.

Ohne auf Ihr Wahlprogramm und ihre Koalitionsvereinbarung einzugehen, möchten wir auf einen politischen Bereich verweisen, in dem dringend Veränderungen – um nicht Reformen zu sagen – nötig sind: Auf den Bereich des Umgangs mit extremen Rechten.

Grundsätzlich bitten wir in diesem Zusammenhang dringend, die Lehren aus der Zeit von Faschismus und Krieg zu beherzigen, wie sie in unserer Landesverfassung – bezogen auf gesellschaftliche Ursachen des Faschismus - zum Ausdruck kommen: „Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des Menschen. Der Schutz seiner Arbeitskraft hat den Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes. Jedermann hat ein Recht auf Arbeit. Der Lohn muss der Leistung entsprechen und den angemessenen Lebensbedarf des Arbeitenden und seiner Familien decken. Für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung besteht Anspruch auf gleichen Lohn, das gilt auch für Frauen und Jugendliche.“ (Artikel 24 der Landesverfassung NRW)

Im allgemeinen werden ja Veränderungen und Reformen abgelehnt, die Geld kosten. Auch diese Vorgehensweise möchten wir nicht kommentieren, dennoch darauf aufmerksam machen, dass die von uns im folgenden geschilderte Veränderungen und Reformen kein Geld kosten würden, aber dennoch dringend geboten sind.

Es vergeht kaum ein Tag und kein Wochenende, an dem nicht auch in unserem Land faschistische Banden auf den Straßen und Plätzen aufmarschieren. Die V-Leute-Praxis des Verfassungsschutzes im NRW-Innenministerium hat zur Stärkung des Neonazismus und zur faktischen Bestandsgarantie für die NPD geführt. Die Polizei sieht dem Treiben der Nazis wie gelähmt zu und verweist auf die beunruhigenden Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu Gunsten von Nazidemonstrationen, und sie verweist auf die „Politik“. Doch die Regierung in Düsseldorf hat solche Verweise – wenn wir sie vornahmen – zurückverwiesen an die Behörden in Regierungsbezirken, Staatsanwaltschaften und Polizeipräsidien. Und die Nazis demonstrierten weiter.

Die Tolerierung faschistischer Umtriebe schreitet fort - bis hin zur skandalösen Duldung des antisemitischen Neonazi-Marsches gegen den Synagogenbau in Bochum und zu antisemitischen Aktionen ausgerechnet am Jahrestag der Reichspogromnacht im Rheinland unter der Nazilosung „Die schönsten Nächte sind die Nächte aus Kristall“. In diesen Tagen erhielten wir die unfassbare Nachricht, dass eines unserer Mitglieder in Bochum vor Gericht gestellt werden soll, weil es am 9. November 2004 mit Blumen und der Losung „9. November 1938 – Damit die Nacht sich nicht wiederhole“ zur Kranzniederlegung für die Opfer des Holocaust gegangen ist, begleitet u.a. von einem Lehrer und einem jüdischen Kantor. Die Staatsanwaltschaft behauptete, das VVN-Mitglied habe gegen das Versammlungsgesetz verstoßen.

Unsere Organisation konzentriert sich 60 Jahre nach der Befreiung von Krieg und Faschismus auf folgende nächste Ziele – und wir hoffen, wir können bei Ihnen dafür Unterstützung erlangen:

  1. Durchsetzung des Prinzips „Eine rechtsextremistische Ideologie lässt sich auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts legitimieren“. (Beschluss des höchsten Gerichts von Nordrhein-Westfalen, OVG NRW, Az 5 B B 585/01) Damit wird beigetragen zur Wiederherstellung des Verfassungsprinzips des Artikels 139 GG, das die 1945/46 geschaffenen Bestimmungen zur Zerschlagung von NS-Organisationen auch für das Heute verbindlich regelt. Höchste NRW-Richter haben sich mit ihren Urteilen gegen die Neonazis gewandt. Ihre Rechtssprechung sollte endlich in NRW volle Gültigkeit erhalten.
  2. Verbot der sog. „freien“ und „nationalen“ Kameradschaften als illegale Nachfolgeorganisationen der in den 90er Jahren von den Innenministern verbotenen Neonaziorganisationen und als kriminelle Vereinigungen. Diese Kameradschaften üben Gewalt, Mord und Terror gegen Ausländer und Antifaschisten aus, und am Ostermontag 2005 kam es in Dortmund erneut zu einer Mordtat eines Täters aus den Reihen der Kameradschaften. Dennoch unterblieb bisher ein Vorgehen – oder wenigstens ein Demo-Verbot – gegen diese Organisationen seitens der Behörden.
  3. Schluss mit der Verfolgung von Antifaschisten, denen „Störung“ von Naziaufmärschen vorgeworfen wird, während doch solche Proteste nach den Aufrufen zum „Aufstand der Anständigen“ dringend geboten waren.
  4. Rückgabe des digitalisierten Archivs der VVN-BdA und ihres Landessprechers, das beschlagnahmt wurde, nachdem die VVN-BdA gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher Anzeige erstattet hatte. (Sie blieben unbehelligt, doch nicht unsere Organisation!) Diese Rückgabe des Archivs ist nach Einstellung des Verfahrens durch die Justizbehörden und nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Az. 2 BvR 1027/02 (Bundesverfassungsgericht verbietet willkürliche Datenbeschlagnahme) dringend geboten.
  5. Durchsetzung wirkungsvoller kommunalpolitischer Positionen des Antifaschismus und der Friedenserziehung in den Städten und Gemeinden. Die VVN-BdA hat dazu ihre Vorschläge vorgelegt. Wir rufen alle Kommunalpolitiker/innen auf, diese Vorschläge in der Praxis anzuwenden. Wir unterstützen die Aktion „Stolpersteine“ zur Erinnerung an die Opfer des Faschismus.
  6. Antifaschistische und antimilitaristische Geschichtsarbeit in den Schulen und unter der Jugend, ferner umfassende Unterstützung der Bewegung für „Schulen ohne Rassismus“. In einer Zeit, da wir auf die Zeitzeugengeneration leider fast ganz verzichten müssen, sind wir aufgerufen, als Angehörige und Hinterbliebene wie auch als antifaschistische Mitstreiter der älteren Generation ihren Auftrag zu übernehmen. 

In diesem Sinne hoffen wir auf Hilfe der neuen Regierung. Mit freundlichen Grüßen

Der Landesausschuss der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (gegründet – bei Anwesenheit des damaligen Ministerpräsidenten von NRW - im Jahre 1946 durch die Vertreterinnen und Vertreter von 50.000 NS-Opfern und Überlebenden des Widerstandes)

Im Auftrag: gez. Josef Angenfort, Landessprecher; Ulrich Sander, Landesspr., Hannelore Toelke, Landessprecherin

Wir erhielten unter dem Datum 13. Juli 05 aus der Staatskanzlei diese Antwort auf unseren Brief an den MP Rüttgers:

„Herr Ministerpräsident Rüttgers dankt für Ihren Brief vom 4. Juli 2005. Er hat mich gebeten, Ihnen zu antworten. Für den Verfassungsschutz ist innerhalb der Landesregierung Nordrhein-Westfalen das Innenministerium fachlich zuständig. Ich habe Ihren Brief daher an das Innenministerium weitergeleitet. Ich gehe davon aus, dass Sie von dort weitere Mitteilung erhalten. Bis dahin bitte ich um Geduld. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag (Unterschrift)“