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Nazis raus aus dem Internet

 

19.02.05

Stumpf gegen rechts?

Roman Herzog und der Artikel 139 des Grundgesetzes

von Otto Köhler

Es gibt begründete Zweifel, ob sich unsere Verfassung überhaupt in einem Zustand befindet, der ein Verbot der NPD ermöglicht

Der Bundesinnenminister hält die NPD - zu Recht - für verfassungsfeindlich, rassistisch und antisemitisch. Er gibt dem Bundesverfassungsgericht die Schuld, dass sie noch nicht verboten ist. Doch er müsste es besser wissen. Seine Leichtfertigkeit im Umgang mit Beweismaterial, das unnötigerweise durch bezahlte Agenten des Verfassungsschutzes in der NPD beschafft wurde, brachte 2003 das Verfahren zum Platzen. Der Präsident - und ähnlich auch der zuständige Vizepräsident - des Bundesverfassungsgerichtes erklärten denn auch am vergangenen Wochenende#, die Einstellung des NPD-Verbotsverfahrens stelle "keine Vorentscheidung über künftige Verbotsanträge dar".

Eine wunderbare Freundschaft im Dienste der "freiheitlichen Rechten"

Es ist fraglich, ob unsere Verfassung, das Grundgesetz, in dem Zustand, in den es zielstrebig gebracht wurde, ein Verbot der NPD ermöglicht. Denn unsere Verfassung hat auch einen Personennamen. Und der heißt Theodor Maunz. Von ihm stammt der maßgebende, der herrschende Kommentar zum Grundgesetz. Der Kommentar, den die Richter als ersten heranziehen, wenn es um dessen Auslegung geht.

"Sein Name zählt" - so schrieb, als Theodor Maunz 1993 im Alter von 92 Jahren starb, die Frankfurter Allgemeine - "zu den großen in der deutschen Staatsrechtslehre". Und die Süddeutsche Zeitung lobte den Grundgesetzkommentator: "Seine verfassungsrechtliche Arbeit in den fünfziger und sechziger Jahren hat dazu beigetragen, die Grundlagen für ein demokratisches Deutschland zu schaffen."

Wenige Tage später wurden diese fahrlässigen Irrtümer unserer führenden Organe genüsslich von der rechtsextremistischen Konkurrenz zerstört. "Deutschland verlor seinen größten Rechtsgelehrten", titelte die rechtsextremistische Deutsche Nationalzeitung und fuhr fort, "Dr. Frey seinen wunderbaren Wegbegleiter."

Dr. Gerhard Frey, Führer der heute mit der NPD verbündeten Deutschen Volksunion (DVU) und Herausgeber der Deutschen Nationalzeitung war gelehriger Schüler von Theodor Maunz, und der hielt zu ihm bis in den Tod. Das schlimmste an Kiosken allgemein verbreitete antisemitische Sudelblatt der Republik wurde vom Kommentator des Grundgesetzes in seinem Kampf gegen den demokratischen Staat juristisch mit allem Nachdruck unterstützt.

Bis ins 91. Lebensjahr hatte Maunz der DVU mit juristischen Gutachten geholfen, jahrzehntelang traf sich der CSU-Mann und Rechtsgelehrte einmal in der Woche mit Frey zu einer, wie der ihm nachjubelte, "stundenlangen Besprechung aller zentralen politischen und juristischen Fragen". Bayerns Verfassungsschutz hielt die Augen fest geschlossen - schließlich unterstand der selbst lange Jahre einem engen Freund von Gerhard Frey: der bayerische Innenminister Dr. Alfred Seidl unterhielt ebenso wie BND-Gründer Reinhard Gehlen enge Beziehungen zum Extremistenchef. Sowohl von Seidl und Gehlen wie auch von Maunz konnte Frey persönliche Briefe veröffentlichen, die von einer engen Freundschaft kündeten.

"Der maßgebliche Grundgesetzkommentator, der Hunderttausende Juristen prägte", so der von ihm mitgeprägte Dr. Frey, schrieb zugleich auch für dessen Neonaziblatt. 1974 attackierte Maunz als Anonymus der Nationalzeitung den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günter Nollau, wegen einer - so Maunz - "einseitigen Ausrichtung dieses Geheimdienstes zum Kampf gegen die freiheitliche Rechte". Freiheitliche Rechte - das ist die Bezeichnung, die vor allem von den Neonazis und Antisemiten im Gefolge der Nationalzeitung und der DVU in Anspruch genommen wird.

Woche für Woche druckte Freys Blatt 1993 die alten Artikel nach, die Maunz vor seinem Tod anonym geschrieben hatte - jetzt allerdings mit voller Namensnennung. Ohne die juristische Beihilfe des maßgebenden Grundgesetz-Interpreten hätte die Neonazi-Partei nicht so viele Prozesse gewonnen. Gegen die Bundespost, die sich weigern wollte, die ausländerfeindlichen Postwurfsendungen der DVU zu befördern. Und gegen den Norddeutschen Rundfunk (NDR), weil der die ausländerfeindlichen Wahlspots der DVU nicht senden wollte.

Die CSU-Fraktion verabschiedet Theodor Maunz mit stürmischen Ovationen

Bis ins Grab machte Theodor Maunz wahr, was schon in der Festschrift zu seinem 80. Geburtstag stand: "Ungebrochen blieb seine Arbeitskraft und seine Arbeitslust, kontinuierlich entfaltete sich der Erfolg seines Lebenswerkes." Die "Entwicklung des öffentlichen Rechts" der Bundesrepublik Deutschland hätte "ohne ihn nicht ihre gegenwärtige Gestalt gefunden" stellten - zutreffender als sie es je dachten - die renommierten Juristen fest, die diese Festschrift verfassten. "Sein Doppelleben wurde zum Lehrstück", schrieb die Süddeutsche Zeitung, als alles herausgekommen war.

Man hätte es wissen können, und mancher aus seiner Umgebung wusste es wohl auch. Wegen seiner Tätigkeit als heftig bekennender Nazihochschullehrer in Freiburg hatte schon die französische Besatzungsmacht nach 1945 Einwände gegen Maunz erhoben. Trotzdem war der im August 1948 beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee dabei und wurde 1952 auf einen Lehrstuhl nach München berufen. Von dort hoffte er, "auch stärker gegen die Verfemung einzelner Kollegen wirken" zu können. Das versprach er jedenfalls dem NS-Staatsrechtler Carl Schmitt. Maunz hatte den NS-Theoretiker 1938 auf dem Kampfkongress gegen "Das Judentum in der Rechtswissenschaft" schätzen gelernt, als es darum ging "den deutschen Geist von allen jüdischen Fälschungen" zu befreien.

Die CSU in München machte Maunz 1957 zum Kultusminister. Seine NS-Schriften verschwanden aus bayerischen Universitätsbibliotheken. Erst 1964, als der Skandal um diese Nazi-Elaborate nicht länger zu unterdrücken war, musste Maunz zurücktreten, wobei es sich die CSU-Fraktion nicht nehmen ließ, ihn mit stürmischen Ovationen zu verabschieden.

Engster Schüler und Assistent dieses sich bis in den Tod hinein treu gebliebenen Nazis war Roman Herzog, später Präsident des Bundesverfassungsgerichtes und Bundespräsident. Er übernahm die Lehrstuhlvertretung, als Maunz Kultusminister wurde. Vor allem war er Theodor Maunz ein vorzüglicher Gehilfe beim Abfassen seines Grundgesetzkommentars.

Da galt schließlich, bis Roman Herzog sich der leidigen Sache annahm, der Grundgesetzartikel 139: "Die zur ›Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‹ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt."

Der Artikel war von Anfang an umstritten. Der Altnazi Seebohm - unter Adenauer Verkehrsminister und berüchtigter Sonntagsredner - wollte ihn weghaben. Theodor Heuss, der 1933 im Reichstag die Hand für Hitlers Ermächtigungsgesetz gehoben hatte, äußerte schon 1949 bei den Grundgesetzberatungen im Parlamentarischen Rat über den Artikel 139: "Ich würde es gerne streichen. Aber praktisch geht es nicht."

Bis Herzog sich im Maunz-Kommentar der Sache annahm, sahen andere Kommentatoren im Artikel 139 die Grundsatzaussage gegen nationalsozialistische und faschistische Staatsauffassungen. Maunz hatte dagegen die "Menschenwürde" des Artikels 1 bemüht. Allein aus der "Überstaatlichkeit und Zeitlosigkeit der Menschenwürde" - so schrieb er 1973 - folge, dass sie - die Menschenwürde - den Entnazifizierungsvorschriften des Artikels 139 übergeordnet sein müsste. Die seien "lediglich staatlich gesetztes Recht vorübergehender Natur".

Roman Herzog macht mit dem Artikel 139 des Grundgesetzes kurzen Prozess

Schüler Roman Herzog, dem Maunz die Bearbeitung des Artikels 139 im Grundgesetzkommentar anvertraute, macht dann das Staatsschiff klar. "Bei seinem Inkrafttreten fand das GG eine beträchtliche Anzahl von alliierten und deutschen Rechtsvorschriften vor, die sich mit der" - so schreibt Herzog leicht angewidert - "sog. Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus, kurz mit der sog. Entnazifizierung befassten."

Und Herzog macht kurzen Prozess: "Mit dem Abschluss der sog. Entnazifizierung ist Art. 139 obsolet geworden." Ganz deutlich wird er mit der Feststellung: "Abzulehnen ist insbesondere der Versuch, ihn als ›Grundsatzaussage über die Haltung des GG gegenüber nationalsozialistischen und verwandten (z. B. faschistischen) Staatsauffassungen‹ anzusehen und insoweit natürlich fortgelten zu lassen."

An die Stelle einer solchen Grundsatzaussage gegen nationalsozialistische Staatsauffassungen schmuggelt Maunz-Schüler Herzog eine dort so nicht vorhandene allgemeine Antitotalitarismus-Bestimmung ins Grundgesetz ein, die auf einem "Anschauungsunterricht" beruhe, den "das deutsche Volk zwischen 1933 und 1945 von seiten des Nationalsozialismus" und - darauf kommt es an - "seit 1945 aber von seiten des Kommunismus erfahren" habe.

Deshalb erscheine es - so Herzog - "gänzlich ausgeschlossen", dass dieses deutsche Volk "dem Totalitarismus der einen Seite mehr Ablehnung entgegenbrächte als dem der anderen". So komplimentiert der spätere Bundespräsident den Artikel 139 als unzulässige "Sondervorschrift nach rechts" aus dem Grundgesetz heraus und pflanzt die Totalitarismustheorie hinein.

Wie die praktisch funktioniert, das beweisen die alljährlichen Verfassungsschutzberichte. Dort erscheint immer wieder die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN) als verfassungswidrige Organisation. Belege sind - so beispielsweise im Verfassungsschutzbericht Baden-Württemberg von 2001 - "Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und Rassismus" in Freiburg, Kundgebungen "Gegen Rechts" in Heidenheim, ein "antifaschistischer Stadtrundgang" in Heidelberg. Das alles ist verfassungswidriger Extremismus.

Der Artikel 139 obsolet? Nicht mehr gebräuchlich, nicht mehr üblich, wie Herzog es wünscht und wie sein Lehrer Maunz es immer gewollt hat. Mag sein. Es gab zwischenzeitlich obsolete Artikel im Grundgesetz (etwa zu einer noch kommenden Wiedervereinigung). Sie wurden mit verfassungsändernder Mehrheit aus dem Grundgesetz entfernt. Nicht aber der Artikel 139 zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus.

Man darf gespannt sein, wie das Bundesverfassungsgericht mit diesem niemals aufgehobenen Grundgesetzartikel umgeht. Auch der öffentlich so tatendurstige Bundesinnenminister könnte sich Gedanken darüber machen, welche Vollmachten ihm der Artikel 139 im Umgang mit der NPD überträgt.

aus: Freitag, 05/2005 vom 04.02.2005.