14.02.05
"Zwischen Verharmlosung und Überreaktion - Zum staatlichen Umgang mit rechter Gewalt und Neonazismus"
Referat von Dr. Rolf Gössner
aus der Landesdelegiertenkonferenz der VVN-BdA NRW am 12.02.2005
in Düsseldorf
Seit 1990, dem Jahr der deutschen Vereinigung, sind mehr als 100 Menschen von Neonazis, Rechtsterroristen und anderen fremdenfeindlich eingestellten Tätern erschlagen, erstochen, aus fahrenden Zügen geworfen, zu Tode gehetzt oder verbrannt worden. Die Zahl der zum Teil schwer Verletzten geht in die Tausende. Die Terrorangriffe gegen Asylbewerber und andere Migranten, gegen Obdachlose und Behinderte, gegen Juden und Linke gehen weiter. Neonazistische Aufmärsche und verbale Attacken gegen Ausländer, Angriffe gegen jüdische Einrichtungen, Friedhofsschändungen und Treibjagden gegen Migranten sind an der Tagesordnung. Die Täter sind mitten unter uns und die sozial Schwächsten und Ausgegrenzten dieser Gesellschaft sind ihre bevorzugten Opfer. Aber den Nährboden, auf dem die Saat dieser Gewalt wächst, gibt es nicht erst seit den 90er Jahren – schon in den 80ern sind in Westdeutschland bereits 35 Menschen durch rechte Gewalt ums Leben gekommen. Der fremdenfeindliche Nährboden reicht weit in die Mitte einer nach rechts driftenden Gesellschaft – es handelt sich keineswegs allein um ein Randphänomen "extremistischer" Gewalttäter.
Die Sicherheitsorgane, also Polizei, "Verfassungsschutz" und Justiz, haben lange Zeit die rechte Gefahr verharmlost, haben sich indifferent oder dilettantisch verhalten und damit schon frühzeitig - aber bis hinein in die jüngere Zeit - falsche Zeichen gesetzt. Polizeiführungen, Hundertschaften oder Einzelpolizisten haben immer wieder erstaunliche Nachsicht und Unentschlossenheit gezeigt; haben rechtsradikale Aufmärsche oft vollkommen einseitig und gewaltsam gegen Antifaschisten geschützt.
Erst so gegen Mitte der 90er Jahre ist eine gewisse Trendwende bei der staatlichen, insbesondere auch der justitiellen Behandlung von rechtsgerichteten Straftätern zu verzeichnen, die dann allerdings in ein verhängnisvolles Fahrwasser zu geraten drohte: Der populistische Schrei nach dem "starken Staat" nun auch gegen rechts zehrte kräftig an
liberal-rechtsstaatlichen Prinzipien. Die aktuellen politischen Versuche, das Versammlungsrecht mit Verweis auf Neonazi-Aufmärsche generell zu verschärfen, deuten streckenweise in jene Richtung. Auch die Verwaltungs- und Strafjustiz – deren Personal inzwischen ein anderes ist, als das kaltekriegsgeschulte der 70er und 80er Jahre - gerieten gewaltig unter politischen Druck. Sie befinden sich in einem kaum auflösbaren Dilemma: nämlich rechte Gewalt und Propaganda
angemessen hart zu ahnden und dabei dennoch beim geforderten „Kampf gegen rechts“ die Bürgerrechte zu achten. Und so taumelte die Justiz zwischen Verharmlosung und Überreaktion, zwischen Nachsicht und Härte.
Um die Jahrtausendwende ging dann ein Ruck durchs Land. Nach mehreren Gewaltakten und Anschlägen rief die herrschende Politik den „Aufstand der Anständigen“ aus – gerade zu einer Zeit, als das »Ansehen Deutschlands in der Welt« auf dem Spiel stand und der Rechtsradikalismus zum Standort-Nachteil geriet. Unter hohem Handlungsdruck stellten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat einen m.E. unverantwortlichen Antrag auf Verbot der NPD – unverantwortlich deshalb, weil sie diesen Antrag ungeachtet der V-Leute-Unterwanderung der NPD stellten und die damit verbundenen verfahrensrechtlichen Folgen offenbar billigend in Kauf nahmen, Folgen, die ein rechtsstaatliches Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht letztlich unmöglich gemacht hätten. Insoweit war es verfassungsrechtlich konsequent, dass das Gericht dieses geheimdienstlich verseuchte Verfahren eingestellt hat.
Auch viele Kräfte aus dem liberalen Bürgertum und der antifaschistischen Linken fordern immer wieder ein NPD-Verbot, wie jetzt auch der hier vorliegende VVN-Resolutionsentwurf – mit dem Argument, die NPD müsse unmittelbar aufgelöst werden, weil Grundgesetz und Völkerrecht dies zwingend erforderten – und zwar jenseits eines verfassungsrechtlichen Parteiverbotsverfahrens nach Art. 21 Abs. 2 GG. Das ist ziemlich kühn – und könnte schließlich auch nicht per Exekutiv-Erlass der Regierung erfolgen, sondern würde ebenfalls ein rechtsstaatliches Verfahren mit umfangreicher Beweisaufnahme erfordern. Mitunter hat es den Anschein, bitte nehmen Sie mir diese Bemerkung nicht übel, dass man allzu gerne bereit ist, bürgerrechtlich-rechtsstaatliche Positionen dann zu räumen, wenn es um den Kampf gegen Rechtsextremismus und neonazistische Gewalt geht – allein schon aus historischen Gründen. So erhält der demokratisch kaum kontrollierbare Verfassungsschutz selbst bei geheimdienstkritischen Geistern gelegentlich antifaschistische Weihen, ebenso wie das höchst bedenkliche, bislang vornehmlich gegen links eingesetzte »Anti-Terror«-Sonderrechtssystem um den Paragraphen 129a StGB. Selbst Gesinnungsstrafrecht scheint keineswegs tabu, wenn es denn um rechtsradikale, geschichtlich diskreditierte Gesinnung geht, genauso wenig wie Verbote von rechtsextremen Parteien, Organisationen, Demonstrationen und Publikationen – frei nach dem
politisch-moralischen, aber nicht gerade justitiablen Motto
”Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen”.
[Was genau versteht dabei wer unter Faschismus? Und ein Verbrechen ist laut Strafgesetzbuch eine Straftat, die mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet wird.]
Die berechtigte Empörung über Neonazi-Aufmärsche und rechte Gewalt, über brutale Skinheads und „national befreite Zonen“ hat den Glauben an die sühnende und präventive Kraft des Strafrechts und des Strafvollzugs, den Glauben an staatliche Repression und Verbotsmaßnahmen selbst bei denen wieder geweckt, die ihn – aus guten Gründen – längst verloren hatten.
Um hier keine Missverständnis aufkommen zu lassen: Selbstverständlich hat der Staat auf verfassungsgemäßer Grundlage gegen rechte Gewalttäter und Volksverhetzer unnachsichtig einzuschreiten – allein schon zum Schutz der Opfer. Und das muss von der demokratischen Öffentlichkeit auch immer wieder eingefordert werden. Aber Skepsis bleibt - insbesondere ist zu hinterfragen, wie der Staat denn seine Aufgabe wahrnimmt und ob er mitunter das Problem, das er bekämpfen soll, mit seinen spezifischen Maßnahmen, Mitteln und Methoden nicht noch verschärft. Dieses Problem möchte ich am Beispiel „Verfassungsschutz“ erläutern.
„Verfassungsschutz“ im Kampf gegen Rechts
Gerade im Zusammenhang mit dem NPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht erlebten wir die größte V-Mann-Affäre in der bundesdeutschen Geschichte, eine aufschlussreiche Affäre, die im März 2003 das Verbotsverfahren schließlich zum Scheitern brachte. Bis heute wurden hieraus keine wirklichen Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: Otto Schily schiebt die Schuld am Einzug der NPD in den Sächsischen Landtag dreist den Verfassungsrichtern in die Schuhe. Noch immer ist die NPD von V-Leuten durchsetzt und die Verfassungsschutzbehörden wollen keinesfalls davon ablassen. Ein neuer Verbotsantrag, wie er gegenwärtig diskutiert wird, würde also das gleiche Schicksal erleiden, wie vor zwei Jahren. Zur Erinnerung:
Etwa 30 der 200 Vorstandsmitglieder der NPD standen seit Jahren als V-Leute im Sold des Geheimdienstes – also fast jeder Siebte, über Hundert dürften es auf allen Parteiebenen gewesen sein. Allein diese hohe Zahl an staatlich bezahlten Neonazis dürfte erheblichen Einfluss auf die NPD gehabt haben. Der Berliner Landesvorstand soll sogar so stark unterwandert gewesen sein, dass der Verfassungsschutz mit seinen V-Leuten einen Beschluss hätte herbeiführen können, die NPD in Berlin aufzulösen. Hat er aber nicht gemacht – im Gegenteil: die V-Leute waren landauf, landab fleißig dabei, die NPD zu stabilisieren und auszubauen.
So haben etwa die V-Leute Wolfgang Frenz und Udo Holtmann die NPD jahrzehntelang mit aufgebaut, an führenden Stellen die Zielsetzung und Aktivitäten der Partei entscheidend mitbestimmt und rassistisch geprägt - obwohl das nach den internen VS-Dienstvorschriften eigentlich untersagt ist. Frenz, Holtmann und andere haben also das Beobachtungsfeld, das sie für den VS von innen beobachten sollten, als V-Leute selbst
mitgestaltet, sie haben die NPD gestärkt, anstatt sie zu schwächen.
Wieder möchte ich ein mögliches Missverständnis ausräumen: Die NPD ist trotz der unterstützenden Beeinflussung durch V-Leute nicht etwa zu einem Kunstprodukt des VS geworden. Ihre
rassistisch-menschenverachtende Politik ist "hausgemacht". Auch das Verhalten der V-Leute hat sich in dieses Gesamtbild der Partei gefügt. Insofern kann dem Argument der NPD nicht gefolgt werden, die - ganz verführte Unschuld - behauptet, die im Verbotsverfahren inkriminierten Äußerungen und Verhaltensweisen seien allein das Werk derjenigen, die im VS-Auftrag in der Partei tätig waren. Die NPD zu einer VS-gelenkten Phantompartei zu deklarieren, die von V-Leuten erst verbotsreif gemacht worden sei, ist Propaganda, war Verteidigungsstrategie des NPD-Anwalts Horst Mahler.
Gleichwohl ist zu bedenken, dass die Grenzlinie zwischen Verfassungsschutz und Verfassungsschutz-unterwanderter NPD für das Bundesverfassungsgericht nur noch schwer auszumachen war – zumal die verantwortlichen Innenminister das ganze Ausmaß der Infiltration vertuschen wollten. Zumindest bei Frenz und Holtmann, aber nicht nur hier, sind die ohnehin verschwommenen Grenzen für den V-Mann-Einsatz deutlich überschritten worden. Ihre Aktivitäten sind nicht allein der NPD, sondern auch dem Staat zuzurechnen. Das bedeutet: Der Staat trägt dafür eine Mitverantwortung.
V-Mann-Praxis: Infiltration der Neonazi-Szene
Bereits zu Beginn der 90er Jahre hatten die Innenminister des Bundes und der Länder beschlossen, das rechtsextreme Spektrum, das mittlerweile bundesweit über 50.000 Mitglieder zählt, verstärkt zu unterwandern, um die Aufklärung über die Gefahren rechter Gruppierungen zu verbessern. Nicht nur die NPD, auch andere rechtsextreme Parteien wie die „Republikaner“ oder die DVU, Organisationen und „Kameradschaften“ wie die „Nationalen Einsatzkommandos“ sowie die Skinhead- und Neonazi-Musikszene sind seitdem mit V-Leuten durchsetzt.
Niemand weiß so recht, wie viele dieser geheimen Informanten tatsächlich für den VS arbeiten. Diese Unkenntnis liegt in der „Natur der Sache“, aber es dürften bundesweit in allen Bereichen mehrere tausend sein, Schätzungen gehen über 5.000 staatlich besoldete Schnüffler hinaus. V-Leute werden vom VS in aller Regel mit mehr oder weniger Druck und mit weitreichenden Versprechungen rekrutiert. Die Anwerbung geschieht nicht selten nach einer Straftat, im Gefängnis oder wenn der Anzuwerbende hoch verschuldet ist oder in einer persönlichen Krise steckt. In aller Regel stammen V-Leute aus der jeweils zu beobachtenden Szene, mit deren Zielen sie sich identifizieren, in der sie einschlägig tätig sind und die sie nun systematisch für den VS ausspionieren sollen – also handelt es sich im rechtsextremen Spektrum um hartgesottene Neonazis, gnadenlose Rassisten, nicht eben selten auch um Gewalttäter.
Nichtkriminelle V-Leute in rechtsextremen Szenen sind kaum vorstellbar. Denn V-Leute können sich nicht etwa als stille Beobachter betätigen, sonst würden sie womöglich als Spitzel auffallen und sich selbst in höchste Gefahr bringen. Ein Hauptmotiv für die häufige Provokation von kriminellen Handlungen ist jedoch in erster Linie der Erhalt der finanziellen Quellen, denn der V-Mann ist für den VS umso wertvoller, je mehr brisante Informationen er liefert, für die er dann bezahlt wird. Damit begeben sich V-Leute in ein fatales Abhängigkeitsverhältnis zum VS, das sie „erpressbar“ und „produktiv“ macht. Mangelt es etwa an brisanten Nachrichten, dann werden solche notfalls produziert, um sich die Vergünstigungen zu erhalten – Beispiele hierfür gibt es genug. Die Erfahrung lehrt, dass der Einsatz von V-Leuten nahezu zwangsläufig mit einem Trend zum Agent provocateur verbunden ist.
Das vielleicht erschreckendste, was ich bei meinen Recherchen für mein Buch „Geheime Informanten“ erfahren musste, ist, dass der VS seine kriminell gewordenen V-Leute oft genug deckt, systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen abschirmt, um sie weiter abschöpfen zu können – anstatt sie unverzüglich abzuschalten. Das illustrieren die Beispiele Toni Stadler, V-Mann aus Brandenburg, und Mirko Hesse, V-Mann des Bundesamtes in kaum zu überbietender Deutlichkeit: Sie hatten die Neonazi-Musik-Szene fest im Griff und unter den Augen des VS mit CDs versorgt, in denen Volksverhetzung betrieben und zum Mord an Juden, Künstlern und Politkern aufgerufen wird. Und mit verfassungsschützerischer Rückdeckung können sich diese Kriminellen im Dienste des Staates in ihrem rechten Treiben ermutigt fühlen und unangefochten weitermachen wie bisher. Dieses Verhalten nennt man psychische Unterstützung und Beihilfe zu Straftaten. Das ist zwar strafbar, doch die VS-Verantwortlichen sind dafür nie zur Rechenschaft gezogen worden – selbst wenn durch dieses Verhalten unbeteiligte Personen schwer geschädigt wurden.
Der VS finanziert das rechte Treiben mit beträchtlichen Summen, denn V-Leute erhalten, wie schon erwähnt, für ihre Spitzeldienste Honorare oder ein regelmäßiges Salär, das mitunter in die Hunderttausende geht. Damit fördert der VS die Objekte, die er beobachten soll – kontraproduktiv, aber arbeitsplatzsichernd. Eigentlich müssten die Spitzel ihre Einnahmen korrekt versteuern, doch eine Einkommenssteuererklärung bleibt ihnen aus Geheimhaltungsgründen erspart - der VS führt bereits einen günstigen Steuersatz von gerade mal zehn Prozent pauschal an das Finanzamt ab.
Im Laufe der Jahre ist ein regelrechtes Netzwerk aus Spitzeln und Agents provocateurs in der Neonazi-Szene entstanden – ein
undurchdringliches Gestrüpp aus braunen Parteien, Neonazi-Gruppen, Verfassungsschutz und seinen dubiosen Zuträgern. Ich wollte genauer wissen, welche Probleme diese geheime Infiltrationsstrategie mit sich bringt und habe deshalb in meinem letzten Buch „Geheime Informanten“ versucht, Hintergründe und Mechanismen der V-Mann-Werbung und -Führung auszuleuchten. Da vielleicht manche der hier Anwesenden dieses Buch bereits gelesen haben, will ich hier und heute darauf verzichten, die Ergebnisse meiner – im Geheimdienst-Milieu naturgemäß recht schwierigen und mühsamen – Recherchen darzustellen und meine Fallstudien zu präsentieren. Das Buch ist im übrigen noch lieferbar.
Dilemma: Die „wehrhafte“ Demokratie im Kampf gegen Rechts
Ich möchte allerdings noch auf das Dilemma der sogenannten wehrhaften Demokratie im Kampf gegen Rechts eingehen. Seit Beginn der 90er Jahre, also nach Ende des Kalten Krieges, haben Innenpolitiker und Verfassungsschützer erkannt, dass der ”Rechtsextremismus”, der sich im letzten Jahrzehnt als eine zunehmende Gefahr herausgestellt hat, vortrefflich als populäre Legitimation für Weiterexistenz und Ausbau des VS genutzt werden kann. Eine unheilvolle Legitimation, wenn man sich die bis heute nicht aufgearbeitete Tradition des VS vergegenwärtigt: Hat doch seine Geschichte selbst “rechtsradikal” begonnen – nämlich mit ehemaligen Nazis, die schon in der NS-Zeit unter anderem bei der Gestapo einschlägig tätig waren. So erhielt das Bundesamt für Verfassungsschutz seine streng antisozialistische Ausrichtung unter der langjährigen Präsidentschaft von Hubert Schrübbers (1955–72), der in der Nazizeit als Staatsanwalt gedient und sich mit grausamen Strafanträgen an der NS-Terrorjustiz beteiligt hatte. Bestens geübt in der Jagd auf politische Gegner – es blieben auch die gleichen – fühlten sich diese Altnazis berufen, die bundesdeutsche Verfassung zu schützen. Kaum verwunderlich, dass sie dabei nicht verhinderten, dass sich auch andere Ex-Nazis im Staatsapparat einnisteten, ob in der Verwaltung, bei der Polizei oder der Justiz – mit gravierenden Folgen für die bundesdeutsche Entwicklung, denkt man nur die extensive Kommunistenverfolgung in den 50er und 60er Jahren, oder später an die gegen Linke gerichteten Berufsverbote der 70er und 80er Jahre, an denen der VS maßgeblich beteiligt war.
Dass diese Vergangenheit noch längst nicht abgeschlossen ist, kann man an der Tatsache ablesen, dass die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ nach wie vor vom VS beobachtetet wird. Wie immer man zu der lange Zeit unkritischen Haltung der VVN zur DDR stehen mag – die aktuelle Beobachtung dieser überparteilichen, dieser generationenübergreifenden antifaschistischen Organisation ist ein Skandal. Und die Begründung des Verfassungsschutzes ebenfalls: Die VVN sei „linksextremistisch beeinflusst“ und huldige einem orthodox-kommunistischen Faschismusbegriff. Und der Gipfel der Erkenntnis: Die VVN werfe staatlichen Institutionen regelmäßig vor, Rechtsextremisten zu begünstigen und gleichzeitig repressiv gegen Antifaschisten vorzugehen.
Es ist für manche bis heute schwer vorstellbar, dass ausgerechnet dieser Geheimdienst Verfassungsschutz, der schon frühzeitig und bis in die jüngere Zeit die ”Gefahren des Kommunismus” und “Linksextremismus” übersteigert und die des Neonazismus verharmlost hat, nun plötzlich zum Garanten für die Eindämmung dieser Gefahr werden soll. Heute werden Verfassungsschützer “im Kampf gegen Rechts” geradezu hofiert, mitunter auch von Antifaschisten in die Pflicht genommen, obwohl ihre Ämter schon in den 80er und 90er Jahren als ”Frühwarnsystem”, das sie eigentlich sein sollen, jämmerlich versagt haben. Jedenfalls haben sie zur Aufklärung in diesem Beobachtungsfeld kaum etwas Greifbares beigetragen: Weder konnte der VS die Zunahme rechter Organisationen und Aktivitäten vorhersagen und erklären noch die Zunahme rassistischer Gewalttaten. Und lange Zeit bagatellisierte er die organisatorischen Qualitäten der rechten Gruppierungen – obwohl es längst starke Ansätze zur Organisierung und Vernetzung gab. Trotz der hohen Zahl an V-Leuten haben sich die Erkenntnisse des VS bislang nicht nennenswert gesteigert: Was der VS mit Millionenaufwand bisweilen zutage förderte, war für Kenner der braunen Szene immer wieder recht enttäuschend. Ein gut ausgestattetes politikwissenschaftliches Institut hätte die Rechtsentwicklung jedenfalls mit wesentlich besseren diagnostischen und analytischen Fähigkeiten erforschen und erklären können.
Ähnlich wie die Debatte um das umstrittene NPD-Verbot, zeigt die geheimdienstliche Beobachtung des Rechtsextremismus fokusartig das Dilemma der sog. wehrhaften Demokratie im Kampf gegen Rechts: Einerseits gebietet es die deutsche Geschichte, gerade bei rechten Organisationen und Parteien besonders wachsam zu sein, Strukturentwicklungen in den Neonazi-Szenen gründlich zu beobachten und entsprechend zu reagieren; andererseits aber kann sich die Fixierung auf einen Inlandsgeheimdienst rasch als fatal erweisen, weil er und seine Instrumente demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen, weil der VS über sein V-Leute-Netz selbst Teil des Neonazi-Problems geworden ist und nicht ansatzweise zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen konnte.
Es stellt sich für mich die Frage, ob die Delegation dieses gesellschaftlichen Problems an den Staat - und damit letztlich seine Verdrängung - nicht eine offensive zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem
Rechtsradikalismus behindert und auch eine engagierte Gegenwehr durch die Bürger selbst; und es fragt sich, ob ein solches Delegieren nicht auch eine Sicherheitskonzeption befördert, die der Bevölkerung vorgaukelt, verhängnisvolle politische Entwicklungen könnten etwa geheimdienstlich oder per Verbot, also durch den Staat verhindert werden. Vielleicht stimmen mir ja manche zu, wenn ich sage: Eine Gesellschaft gewinnt nicht dadurch an demokratischer Kraft, dass sie – auch extreme oder radikale – politische Positionen verbietet oder stellvertretend dem administrativen Staatsschutz zur weiteren Veranlassung überstellt, wobei die Freiheit in der Demokratie des Grundgesetzes ihre Grenze dort finden muss, wo der Versuch unternommen wird, das menschenverachtende Gedankengut des Naziregimes wiederzubeleben. Doch generell dürfte gelten, dass eine Gesellschaft viel eher dann an demokratischer Kultur gewinnt, wenn sie sich offen und offensiv auch mit solchen Positionen auseinandersetzt, auseinander zusetzen lernt. Und dazu gehört im übrigen auch, sich den Neonazis ungestraft in den Weg stellen zu können - was jedoch immer häufiger über § 21 Versammlungsgesetz verhindert wird. Die recht heterogenen Bündnisse, die sich hier engagieren, sind ein ganz wichtiger Bestandteil des politisch zu führenden Kampfes gegen Rechts. Doch Polizei und Justiz versuchen immer wieder, ja zunehmend, diese engagierte Gegenwehr einseitig zu unterbinden.
Kriminalisierung antifaschistischen Engagements
Ein Beispiel, das Ihnen wahrscheinlich bekannt sein dürfte: Martin Löwenberg, Verfolgter des Naziregimes, der in der frühen Bundesrepublik wegen seiner linkspolitischen Arbeit zu insgesamt 20 Monaten Gefängnis verurteilt worden war, stand im Alter von 78 Jahren wiederum vor Gericht. Wegen „Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz“ verurteilte ihn das Amtsgericht München im Jahr 2003 zu einer Geldstrafe, weil er öffentlich dazu aufgerufen hatte, sich einem Neonazi-Aufmarsch gegen die Wehrmachtsausstellung in den Weg zu stellen. Er hielt es für legitim, sich – wie er formulierte - den „Totengräbern der Demokratie entgegenzustellen“ – für ihn eine lebensgeschichtliche Verpflichtung. Eigentlich ein anerkannt löbliches Tun, rufen doch auch Politiker zuweilen einen „Aufstand der Anständigen“ gegen Neonazis aus. Aber nicht jeder „Aufständische“ wird als „Anständiger“ anerkannt. Und so verurteilte der Amtsrichter den Antifaschisten Löwenberg zu einer Geldstrafe. Das Gericht bescheinigte dem Angeklagten zwar eine „achtbare Gewissensentscheidung“. Doch: „Respektable Gewissensentscheidungen rechtfertigen oder entschuldigen nicht die Übertretung von Gesetzen.“ Sein Aufruf sei eine „öffentliche Aufforderung zu Straftaten“ und zeige die Absicht, einen nicht verbotenen Aufzug alter und neuer Nazis zu verhindern. Das Urteil ist seit September 2004 rechtskräftig. Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte daraufhin: „Ex-KZ-Häftling wegen Nazi-Protest verurteilt“. Eine Polizeiangestellte wusste offenbar mit dem Kürzel KZ nichts anzufangen, weshalb sie in der polizeilichen Ermittlungsakte aus ihm einen ehemaligen „Kfz-Häftling“ machte.
Das Urteil löste in Bayern einen Proteststurm aus – zumal mittlerweile bekannt geworden war, wie verharmlosend die bayerische Landesregierung lange Zeit mit dem Neonaziproblem umgegangen war, insbesondere mit der Terrorgruppe um den Neonazi Martin Wiese. Dieser hatte besagten Nazi-Aufmarsch angemeldet – und sitzt inzwischen wegen geplanter Bombenattentate gegen jüdische Einrichtungen in U-Haft.
Martin Löwenberg ist erst kürzlich von der Internationalen Liga für Menschenrechte wegen seines Schicksals und seines antifaschistischen Engagements – zusammen mit Esther Bejarano, Peter Gingold und Percy MacLean - mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet worden. Er ist, wie Sie wissen, nicht der einzige, der wegen seines antifaschistischen Engagements verurteilt wurde. Auch der Maschinenschlosser Christiaan B., dessen Vater im KZ Dachau inhaftiert war, wurde in München zu einer Geldstrafe verurteilt – nur weil er Gegendemonstranten und Passanten angesprochen und Ihnen kopierte Stadtpläne überreicht hatte, auf denen die Nazi-Tour eingezeichnet war. In verschiedenen Bundesländern, gehäuft aber in Nordrhein-Westfalen, kam es in den Jahren 2003/2004 zu entsprechenden Verfahren. Allein die Staatsanwaltschaft Wuppertal hatte anlässlich eines einzigen Ereignisses etwa 70 Strafverfahren wegen Verstoßes gegen § 21 VersG eingeleitet und Strafbefehle jeweils in Höhe von 300 Euro verschickt. Die Betroffenen, die sich im Januar 2003 an spontanen Protesten gegen einen nicht verbotenen Neonazi-Aufmarsch beteiligt hatten, folgten dem Aufruf „Wuppertal stellt sich quer“. Die meisten legten Einspruch gegen die Strafbefehle ein. Die Gerichtsverfahren führten trotz gleicher Sachverhalte zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen – je nach dem, welches Gericht, welcher Richter zuständig war. Teilweise sind die Verfahren meines Wissens nach noch nicht rechtskräftig abgeschlossen.
Es mehren sich seit geraumer Zeit die Anklagen gegen Menschen, die zu Antinazi-Protesten aufriefen oder sich den Nazis in den Weg stellten. Dabei gerät eine früher seltener angewandte Strafnorm mehr und mehr zu einer juristischen Keule, nämlich § 21 Versammlungsgesetz:
"Wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe
bestraft". Diese weit gefasste Norm namens „Versammlungsstörung“ kann von Polizei und Staatsanwaltschaft dazu gebraucht oder auch missbraucht werden, jeglichen antifaschistischen Protest zu kriminalisieren und zu ersticken. Damit werden schon Protest-Vorbereitungen und der bloße Aufruf, sich den Rechten entgegenzustellen, zu Straftaten – sofern die Gerichte § 21 nicht im Lichte der Meinungsfreiheit eng ausgelegen und der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gebührend berücksichtigt wird. Auch Gegendemonstrationen unterliegen dem Schutz des Grundgesetzes. Eine solche Kriminalisierung, wie wir sie gehäuft erleben, beeinträchtigt die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit – nach dem Motto: Nazis darf man sich nicht ungestraft in den Weg stellen. So wird die geforderte zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung, der gewaltfreie Protest gegen Neonazismus und Rassismus von Staats wegen behindert.
Lassen wir das nicht zu, liebe Delegierte. Am 8. Mai 2005, dem 60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Naziterror, sollen wieder Nazis durch das Brandenburger Tor marschieren dürfen. Die Jungen Nationaldemokraten (JN) haben ihren Aufmarsch am 4.11.04 angemeldet; er soll von 10 bis 18 Uhr dauern und von Osten kommend am Platz des 18. März enden. Motto: „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult“. Demgegenüber sollen antifaschistische Aktionen in örtlicher Nähe das Nachsehen haben, weil nach dem „Prinzip der ersten Anmeldung“ der Neonazi-Aufzug „vorrangig zu betrachten“ sei. So hat das Polizeipräsidium Berlin die Anmelder des Brecht-Projektes „Das Begräbnis oder Die Himmlischen Vier“ beschieden, obwohl deren Anmeldung bereits am 4.10.04, also einen Monat früher, erfolgt war – allerdings noch ohne genaue Streckenplanung. Angeblich wird das Projekt auch nicht als politische Demonstration im versammlungsrechtlichen Sinne gewertet. Auch wenn noch nichts wirklich entschieden ist: Wir müssen uns darauf vorbereiten, denn die rechte Szene will mit mehreren Tausend „Nationalen“ zur „größten patriotischen Kundgebung seit dem Kriegsende“ mobilisieren. Auf eine Verschärfung des Versammlungsgesetzes oder eine Versammlungsverbot zu warten, können und sollten wir uns in der offensiven Auseinandersetzung mit Rechts nicht leisten – so sympathisch ein Verbot des Naziaufmarschs auch immer wäre. Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang dem Berliner Polizeipräsident Artikel 24 der Berliner Verfassung in Erinnerung rufen. Dort steht wörtlich:
„Auf die Artikel 8 (Meinungsfreiheit) und Artikel 18 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) darf sich nicht berufen, wer missbräuchlich die Grundrechte angreift oder gefährdet, insbesondere wer nationalsozialistische oder andere totalitäre oder kriegerische Ziele verfolgt.“
Lassen Sie mich zum Abschluss einen Selbstversuch machen: Ob ich mich wohl strafbar mache, wenn ich von hier aus dazu aufrufe: Lasst uns den Alt- und Neonazis am 8. Mai 2005 gemeinsam entgegenstellen!? Eine machtvolle Großdemonstration gegen Rechts zum 60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands könnte einem
NeonaziAufmarsch tatsächlich Einhalt gebieten - es wäre nicht das erste Mal; eine solche überwältigende Antwort könnte hierzulande, aber auch über die Grenzen hinweg, Mut machen, Mut zur Gegenwehr gegen Geschichtsverfälschung und die Verhöhnung von Nazi-Opfern, gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
Menschenverachtung.
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