10.02.05
»Für immer Antifaschistin«
Ein Bericht dokumentiert aus
dem Bielefelder Webportal "www.webwecker-bielefeld.de"
von einer Veranstaltung mit der Holocaust-Überlebenden Celine van
der Hoek aus Amsterdam
»Eine Woche länger und ich hätte nicht überlebt«. Bei ihrer Befreiung wog Celine van der Hoek noch ganze 25 Kilogramm
(Bild: www.webwecker-bielefeld.de)
Am vergangenen Mittwoch platzte das Café Parlando aus allen Nähten. Celine van der Hoek war angekündigt. Sie ist eine der wenigen Zeitzeuginnen, die noch über Widerstand, Verfolgung und Deportation während des Nationalsozialismus berichten könnten. Die Jüdin aus Amsterdam überlebte Auschwitz und erzählte an diesem Abend ihre Geschichte.
Von Manfred Horn
Still sitzt sie da, minutenlang. Bevor sie das Wort ergreift. Sie hätte viel zu erzählen, doch das würde alles nicht in einen Abend passen: Celine van der Hoek ist inzwischen 84 Jahre alt. Sie will das Schöne nicht verschweigen, doch es ist vor allem das Schreckliche, dass sie immer wieder berichtet. Berichten will, damit aus der Vergangenheit die richtigen Schlüsse für die Gegenwart gezogen werden.
Van der Hoek bezeichnet sich selbst »als Antifaschistin für immer«. In Amsterdam behütet aufgewachsen, gerät sie als Irgendwie-auch-Jüdin, die
Nationalsozialisten klassifizieren sie als »3/4 Jüdin« in den Holocaust, überlebt Auschwitz. Anfang der 1940 Jahre war Amsterdam eine Stadt mit 80.000 Einwohnern jüdischen Glaubens. Dann kam der Krieg nach Holland, genauer gesagt, kamen die deutschen Besatzungstruppen. Die Niederlande hatten sich bei Kriegsausbruch neutral gestellt, vergebens. Am 10. Mai fielen die deutschen Truppen ein, bereits am 14. Mai, nachdem die Luftwaffe kurzerhand und demonstrativ Rotterdam in Schutt und Asche gelegt hatte, kapitulierte die holländische Regierung.
Zu Beginn war die deutsche Besatzungsherrschaft milder als von vielen Niederländern befürchtet. Reichskommissar Seyß-Inquart, der Chef der deutschen Besatzungsverwaltung, betonte, er wolle das niederländischen Recht so weit wie möglich in Kraft lassen. Die niederländischen Kriegsgefangenen wurden Anfang Juni 1940 wieder freigelassen.
Auch die jüdische Bevölkerung wurde in den ersten Monaten in Ruhe gelassen. Die Mutter von Celine van der Hoek betreibt ein Elektro-Geschäft mit mehreren Filialen. Der Vater starb bereits 1923. Die damals 20-jährige konnte weiter als Kindergärtnerin arbeiten. Dies sollte sich Ende 1940 ändern: Die Besatzungsmacht erließ erste antijüdische Gesetze. Jüdische Staatsbedienstete wurden entlassen, Juden mussten alle möglichen Angaben über sich und ihr Eigentum machen und ihre Möglichkeiten in Beruf und Alltagsleben wurden immer weiter eingeschränkt. »Alles Maßnahmen, um uns von der Bevölkerung zu isolieren«, erinnert sich van der Hoek.
Antisemitismus habe es in Holland auch schon vor der deutschen Besatzung gegeben. Der äußerte sich aber nicht in Gewalt. Nun wurde es anders. Van der Hoeks Mutter sagte vor der Besatzung: »Hitler ist schlimm. Aber es gibt auch noch andere Deutsche«. Die waren auch in Holland, nach 1933 in das Nachbarland geflohen: Unter ihnen viele Juden, Sozialisten und Kommunisten. Auch die aus Deutschland Emigrierten waren nicht mehr sicher, hatten aber einen Vorteil: Sie sprachen deutsch und konnten so die Besatzer leichter täuschen.
Blutiger Februarstreik
Am 22. und 23. Februar gab es die erste groß angelegte Razzia, mehr als 400 jüdische Männer wurden ins KZ Mauthausen verschleppt. »Davon hat nur einer überlebt«, weiß van der Hoek. Die niederländischen Kommunisten riefen daraufhin einen Generalstreik aus, der als »Februarstreik« in die holländischen Geschichtsbücher einging. »Nicht nur die Kommunisten, viele haben mitgemacht«, blickt van der Hoek zurück. Die Besatzungstruppen schlagen den Streik, der nicht nur in Amsterdam, sondern in ganz Nordholland durchgeführt wurde, blutig nieder. Die Anführer des Streiks wurden erschossen.
Celine van der Hoek sprach im Cafe Parlando umringt von betroffenen Zuhörern
(Bild: www.webwecker-bielefeld.de)
Die niederländische Wirtschaft machte durchaus gute Geschäfte mit dem Dritten Reich, große Teile der Bevölkerung blieben aber bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Besatzungsmacht. Es bildeten sich Widerstandsorganisationen heraus, getrennt nach Ideologie und Glauben. »Die haben aber alle zusammengearbeitet. Auch haben sie versucht, Juden in Sicherheit zu bringen«, berichtet van der Hoek. Die mussten bald den gelben Stern tragen. Ihre Lage spitze sich immer weiter zu. Van der Hoek konnte nicht mehr in dem Kinderheim arbeiten, da sie Jüdin war. Darauf hin betreute sich jüdische Kinder in der Nähe ihres Wohnhauses. Das Geschäft ihrer Mutter geriet in österreichische Hand, zunächst aber durften zumindest die Angestellten bleiben.
Die Mutter versuchte, wertvolle Sachen außer Haus zu schaffen, wurde aber verraten. Celine van der Hoek war auf dem Weg nach Hause, zum Mittagessen. Der Weg von der Arbeit zu ihrem Haus war schließlich nicht weit. Ihre Mutter war unterwegs, als sie kurz vor dem Haus ein niederländischer Polizist stoppte. Er berichete von der Anzeige. Doch statt sie festzunehmen, riet er ihr: »Geh nicht nach Hause, da wartet der Sicherheitsdienst«. Van der Hoek entfernte ihren gelben Stern, den sie verbotenerweise nur mit einer Sicherheitsnadel befestigt hatte. Der Polizist nannte ihr sogar eine Unterschlupfadresse.
Zweimal gelang ihr die Flucht
Fortan lebte van der Hoek in der Illegalität, getrennt von ihrer Mutter und ihrem Bruder. Die kamen in Auschwitz um, ohne dass Celine van der Hoek sie noch mal wiedergesehen hätte. Zweimal wurde sie verhaftet, jedes Mal gelang ihr die Flucht und sie tauchte erneut unter. Einmal rettete sie ein Nicht-Jude. Er ging zur Schauburg, einem ehemaligen Theater in Amsterdam, in dem viele Juden gefangen gehalten wurden. »Dies ist eine unserer besten Näherinnen«, sagte er. Eine doppelte Lüge: Weder besaß er eine Bekleidungsfabrik, in der, wie er fälschlich behauptete, Uniformen für die Wehrmacht hergestellt wurden, noch war van der Hoek eine Näherin. »Die Wahrheit ist: Ich konnte nicht einmal einen Knopf annähen«. Die Bewacher glaubten die Geschichte, und sie konnte, ohne ihre Nähkunst beweisen zu müssen, die ›Schouwburg‹ verlassen.
Im Juli 1942 erfolgte die erste große Razzia gegen Amsterdamer Juden im Rahmen der »Endlösung der Judenfrage«. Anfang 1944 waren praktisch alle Juden, die nicht rechtzeitig hatten untertauchen können, in das Durchgangslager Westerbork im Nordosten der Niederlande abtransportiert. Von dort aus wurden sie in die Vernichtungslager in Polen deportiert. Mehr als drei Viertel der 140.000 Juden, die vor dem Beginn der Besatzungszeit in den Niederlanden gelebt hatten, wurden ermordet.
Auch van der Hoek wurde schließlich von den Nazis gepackt und im Mai 1944 nach Westerborg gebracht. Sie reiste dort bewacht mit einem Reisezug hin. Die Zustände in Westerborg seien unerträglich, dachte sie damals. Heute sagt sie: »Verglichen mit Auschwitz war es ein Sanatorium«. Von Westerborg nahe der Grenze zum Deutschen Reich gingen jeden Dienstag die Transporte in die Vernichtungslager. Sie sagten: »Dort müsst ihr arbeiten«. Die Gefangenen im Lager Westerbork glaubten ihnen nicht. Sie wussten nur, dass niemand mehr zurückkehrt.
Am 6. Juni 1944 landeten die alliierten Truppen in der Normandie. Die englischen und us-amerikanischen Truppen rückten in den folgenden Monaten schnell auf die Niederlande zu, im September standen sie an der Landesgrenze. Die Besatzer wurden nervös, viele setzten sich aus Westerborg ab. Doch bevor die große Fluchtwelle losging, kam van der Hoek am 12. September 1944 auf Transport. Zielort: Auschwitz.
Die Sintezza Settela Steinbach, verschleppt von den Nazis im Lager Westerbork
(Bild: www.webwecker-bielefeld.de)
Diesmal nahmen die Deutschen nicht einen Personenzug, sondern Viehwaggons. Die Waggons waren völlig überfüllt, bis zu 80 Menschen drängten sich in einem Waggon. Hinzu kam, dass es nichts zu essen und zu trinken gab. Die Hälfte der Menschen, gerade Alte und Kleinkinder, überlebten die lange Fahrt nicht. In Auschwitz erwartete sie die SS, unterstützt von den Kapos, Häftlinge, die von den Nazis als Aufseher eingesetzt wurden. Mit Knüppeln und Hunden wurden die Menschen aus den Waggons getrieben. Dann kam die Selektion, die Josef Mengele höchstpersönlich vornahm. Der Arzt, den die Gefangenen »Todesengel« nannten, nutzte das Konzentrationslager als Labor für Menschenversuche. Wer ihm in die Hände viel, hatte nicht mehr lange zu leben.
Eine beschlagene Brille rettet ihr Leben
Van der Hoek ist Brillenträgerin. Ein großes Problem, den Brillenträger galten als nicht brauchbar und wurden häufig sofort in die Gaskammern selektiert. Mengele fragte van der Hoek, ob sie gut sehen könne. Die antwortete, obwohl sie die Frage nicht richtig verstand, instinktiv richtig: »Ja«. Ihr Glück. Sie trug ihre Brille in diesem Moment nicht, da sie beschlagen war. Ihre Haare wurden geschoren, eine Nummer in den Unterarm wurde ihr bereits beim Abtransport in Westerborg eintätowiert. Für die folgenden Monate war van der Hoek nur noch eine Nummer, ständig auf Abruf zum Tod. Die SS sagte ihnen von Beginn an, wo es langging: »Wenn ihr euch nicht benehmt, geht ihr ab in den Kamin«. Van der Hoek musste in Auschwitz nicht arbeiten, sie kam in die Baracken des
Außenlagers Birkenau. Acht bis zehn Frauen drängelten sich nachts auf einer Holzpritsche, auf die normal höchstens drei gepasst hätten. Pro Pritsche gab es nur zwei bis drei Decken. Nur die stärksten konnten sich zudecken. Morgens um 4 Uhr war Appell, stundenlang stehen, bei Regen, bei Schnee. Noch dreimal wurde sie selektiert, dreimal überlebte sie. »Ich habe einfach nur großes Glück gehabt«, sagt sie heute.
Sie dachte damals, hier komme ich nicht mehr raus. Ständig wurde sie Zeuge von gescheiterten Fluchtversuchungen, von Erschießungen, sah erhängte Häftlinge und wußte, dass sie ins Gas selektiert werden konnte. Dann, das Ende des Krieges rückte näher, wurde sie auf einmal wieder normal eingekleidet: Schuhe und Mantel statt Häftlingsuniform. Sie wurde im Dezember 1944 in die damals noch von der deutschen Armee besetzten
Tschechoslowakei gebracht, musste in der Rüstungsindustrie bei Skoda arbeiten. Nach drei Monaten war Auschwitz für sie vorbei, sie hatte überlebt. Doch auch im Werk drohte der Tod. Der Vorarbeiter, ein glühender Nationalsozialist, hielt sie für eine Saboteurin und kündigte ihren Tod an. Zuvor aber sollte van der Hoek noch bis zum Letzten nützlich sein. Von der Werkbank wurde sie auf den Hof versetzt. Schwerstarbeit, Schubkarren mit Fabrikabfall beladen. Sie hatte wieder Glück: Nach nur drei Tagen auf dem Hof waren die deutschen Bewacher auf einmal weg. Das Werk war befreit.
»Eine Woche länger und ich hätte nicht überlebt«, weiß van der Hoek. Sie war damals 25 Jahre, ganze 24 Kilo wog sie noch. Nach der Befreiung brach sie zusammen, kam ins Krankenhaus, wurde schließlich mit einem Militärflugzeug nach Holland ausgeflogen. »Seitdem habe ich noch gut gelebt«, sagt sie. Auch wenn sie als Erbin das Elektrogeschäft nicht zurückbekam, die drei Filialen gehörte inzwischen einem Deutschen. Der hatte alle Unterlagen vernichtet, lebte in einer Prachtvilla inmitten der Möbel ihrer Mutter. Nichts davon hat van der Hoek wiederbekommen. Die ersten Jahre sei sie »extrem antideutsch« gewesen. Es dauerte lange, bis sich daran etwas änderte: Sie lernte eine Frau namens Trüs kennten, die zuvor als Trudel in Deutschland lebte. Sie half im Krieg, den sie in Holland erlebte, desertierten Wehrmachtssoldaten. Eine Bekanntschaft, die van der Hoek nachdenklich machte.
Lange Jahre behandelte sie ihre eigene Deportationsgeschichte persönlich. Sie war nach dem Krieg immer politisch aktiv, war in der Friedensbewegung. Mitte der 1960er Jahre sagte sich beim Auschwitz-Prozess in Frankfurt aus. Anfang der 1990er Jahre fragte dann ein Lehrer, ob sie nicht von ihrer Verfolgungsgeschichte erzählen wolle. Sie hat ja gesagt und zieht seitdem Kraft daraus, durch Holland und auch durch Deutschland zu reisen und ihre Geschichte zu erzählen. Sie hat festgestellt, dass seit der deutschen Besatzung der Antisemitismus in Holland zugenommen hat, ein schleichendes und giftiges Erbe. Und sie erkennt die Schwierigkeiten im Zusammenleben der Gegenwart, sieht den Rassismus. Sie macht dafür die ökonomischen Krisen verantwortlich, die die Menschen gegeneinander aufbringen. Da ist ganz Linke, bis heute.
Celine van der Hoek war bei ihrem Vortrag in Begleitung. Henk´t Hooft berichtete über die ›Stichting Kindermoment‹ aus Amsterdam. Die Stiftung bietet in Amsterdam Führungen unter anderem zum Haus von Anne Frank an, geht in Schulen und hatte die Idee zur Errichtung eines Kindermonuments. Dieses Denkmal wurde auf dem Spielplatz Amsterdam Zuid aufgestellt. 1921 gründeten Arbeiter im Amsterdamer Rivierenbuurt-Viertel für ihre Kinder einen Spielplatz. Ab dem 3. November 1941 bestimmten die Nazis den Spielplatz zum Judenmarkt. Juden durften nur noch dort kaufen. Diese Märkte dienten auch als Sammelpunkte. Von dort aus wurde die jüdische Bevölkerung in die Vernichtungslager deportiert. Auf dem Denkmal steht heute: »Zusammen spielen, zusammen leben«.
Die Stiftung Kindermonument im Netz: http://www.kindermonument.nl.
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