27.10.04
Carl-von-Ossietzky-Medaille an Mitglieder der
VVN-BdA verliehen
Internationale Liga für Menschenrechte verleiht Carl-von-Ossietzky-Medaille
2004 an Percy MacLean sowie an Esther Bejarano, Peter Gingold, Martin Löwenberg
Wie jedes Jahr verleiht die Internationale Liga für Menschenrechte
anlässlich des Tages der Menschenrechte im Dezember die Carl-von-Ossietzky-Medaille an Personen, die sich um Verteidigung,
Durchsetzung und Fortentwicklung der Menschen- und Bürgerrechte besonders
verdient gemacht haben sowie an Menschen, die vorbildliche antifaschistische
und antirassistische Arbeit leisten.
Das Kuratorium der Liga unter Vorsitz von Hilde Schramm hat die
Carl-von-Ossietzky-Medaille in diesem Jahr folgenden Personen zuerkannt:
Esther Bejarano, Peter Gingold und Martin Löwenberg, alle drei Verfolgte des
Naziregimes und aktive Antifaschisten, sowie Percy MacLean, Vorsitzender
Richter am Verwaltungsgericht Berlin. Alle vier Preisträger werden für ihren
auf unterschiedliche Weise geführten politischen und rechtlichen Kampf gegen
Diskriminierung, Rassismus und Neonazismus in dieser Gesellschaft ausgezeichnet.
Percy MacLean (Berlin) soll für sein aufklärerisches Wirken und seine dem
Antidiskriminierungsgebot verpflichtete justizielle Tätigkeit, insbesondere
für politisch Verfolgte und Bürgerkriegsflüchtlinge, gewürdigt werden.
Gerade in Flüchtlingsfragen setzte er mit seinem gesamten Engagement
- oft genug gegen starke Widerstände aus Behörden und Politik - deutliche
Akzente für einen umfassenden Menschenrechtsschutz. So hatte er sich als erster
Direktor des neugegründeten "Deutschen Instituts für Menschenrechte" dafür
eingesetzt, nicht allein Menschenrechtsverletzungen in aller Welt zu
thematisieren, sondern auch die Menschenrechtssituation in Deutschland zu
beleuchten - z.B. den Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, rassistische Übergriffe und Diskriminierungen, Vollzug und Dauer der
Abschiebehaft sowie die deutsche Abschiebepraxis. Den Schwerpunkt auf
Menschenrechtsfragen im eigenen Land zu legen, war ihm wichtiger als das
Amt: Nachdem man - unter Verletzung der von den Vereinten Nationen
geforderten Unabhängigkeit des Instituts - in deutschlandspezifische
Projekte eingegriffen und eine Schwerpunktsetzung im internationalen Bereich
verlangt hatte, erklärte er seinen Rücktritt.
Esther Bejarano (Hamburg), Tochter einer jüdischen Familie, wurde 1943
nach Auschwitz-Birkenau verschleppt, wo sie dank ihrer musikalischen
Fähigkeiten als Akkordeonspielerin im legendären Mädchenorchester des KZ
überlebte. Später wird sie ins KZ Ravensbrück überstellt, wo sie
Zwangsarbeit für den Siemens-Konzern verrichten muss. Ende April 1945
gelingt ihr die Flucht aus dem Todesmarsch. Nach der Befreiung ging sie nach
Palästina und kehrte in den 60er Jahren aus Israel nach (West-)Deutschland
zurück - in die Heimat der Mörder ihrer Familie. Sie tritt als Künstlerin
und Zeitzeugin auf, klärt Menschen, insbesondere Jugendliche, über das
NS-Regime sowie über neonazistische Strömungen in der Gegenwart auf. Die
79jährige kämpft bis heute gegen Rassismus und Neonazismus, mit Zivilcourage
demonstriert sie gegen Rechtsradikale und ihre martialischen Aufmärsche.
Peter Gingold (Frankfurt/M.), aus Nazideutschland nach Frankreich
entkommen, war aktiver Widerstandskämpfer gegen das Naziregime im besetzten
Frankreich. Er wurde von der Gestapo verhaftet, für Wochen inhaftiert und
gefoltert, bis ihm die Flucht gelang. Nach dem Krieg konnte er als
ehemaliger Widerstandskämpfer und Kommunist in Deutschland nur schwer wieder
Fuß fassen. Er und seine Familie mussten sechs lange Jahre um die Erlangung
der bundesdeutschen Staatsbürgerschaft kämpfen - wegen "Zweifeln" an ihrem
Bekenntnis zur "freiheitlich-demokratischen Grundordnung". Deswegen wurde
seine Tochter Silvia Mitte der 70er Jahre mit einem Berufsverbot belegt.
Erst nach langen Prozessen und heftigen Protesten wird sie schließlich als
Lehrerin im Schuldienst eingestellt, aber nie verbeamtet. Peter Gingold und
seine Frau Ettie sind seit den 60er Jahren in der Friedensbewegung und der
antifaschistischen Bewegung aktiv - entsprechend ihrer Lebensaufgabe,
alles zu tun, "damit nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg von Deutschen
ausgeht". Peter Gingold ist Bundessprecher der "Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes" (VVN-BdA). Als Zeitzeuge ist der heute 88jährige vor
allem bei jungen Menschen ein beliebter und angesehener Gesprächspartner.
Martin Löwenberg (München) hat Konzentrationslager und Zwangsarbeit
überlebt. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern der VVN. Aus politischen
Gründen wurde er in der jungen Bundesrepublik verfolgt und verhaftet
- wegen seines sozialistischen und antifaschistischen Engagements in einer
Organisation, die vom Staatsschutz im Kalten Krieg als "Tarnorganisation"
der verbotenen KPD eingestuft worden war. Zweimal stand er vor Gericht,
zweimal wurde er zu jeweils 10 Monaten Haft verurteilt - allein wegen
seiner gewaltlosen, linksoppositionellen Betätigung und Gesinnung. Im Jahre
2003 stand er wieder vor Gericht: Diesmal wurde er zu einer Geldstrafe
verurteilt, weil er dazu aufgerufen hatte, sich in München einem Aufmarsch
von Alt- und Neonazis in den Weg zu stellen. Erst kürzlich ist seine
Berufung verworfen worden, so dass der heute 79jährige für sein antifaschistisches Engagement rechtskräftig verurteilt ist. Die
"Süddeutsche Zeitung" titelte: "Ex-KZ-Häftling wegen Nazi-Protest
verurteilt".
Martin Löwenberg, Peter Gingold und Esther Bejarano stehen stellvertretend
für zahllose andere,
- die in der NS-Zeit aus rassischen und/oder politischen Gründen verfolgt
worden waren,
- die meist aktiv im Widerstand gegen das Naziregime gekämpft hatten,
- die nach 1949 in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik wegen
ihres antifaschistischen und sozialistischen Engagements, auch im Zuge der
Kommunistenverfolgung, kriminalisiert und teils inhaftiert wurden,
- die sich als Überlebende des Naziterrors oder ehemalige Widerstandskämpfer
in der Bundesrepublik aktiv gegen Rassismus und Neonazismus engagiert haben
und immer noch so engagieren,
- die Mitglieder und Repräsentanten der "Vereinigung der Verfolgten
des Naziregimes" (VVN) sind.
Ihre Organisation war 1947 von Überlebenden des NS-Terrorregimes als
überparteiliche Vereinigung von Verfolgten und Antifaschisten gegründet
worden. Von den 50er Jahren an bis heute wird die VVN vom Verfassungsschutz
geheimdienstlich überwacht. Viele ihrer Mitglieder wurden von Entschädigungszahlungen für erlittene Verfolgung ausgeschlossen, zwei
Jahrzehnte lang kriminalisiert und später auch mit Berufsverboten belegt.
Diese Menschen, die heute zwischen 79 und 88 Jahre alt sind, sollen für ihre
jahrzehntelange antifaschistische Arbeit gewürdigt und geehrt werden, die
sie - trotz langjähriger Kriminalisierung und Anfeindungen, trotz
beruflicher und finanzieller Nachteile - mit hohem persönlichen Einsatz und
Glaubwürdigkeit in der Bundesrepublik geleistet haben. Zusammen mit Percy
MacLean werden sie für ihre Verdienste mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille
ausgezeichnet.
Die undotierte Ossietzky-Medaille wird seit 1962 jährlich verliehen. Zu den
Preisträgern zählten in der Vergangenheit die Autoren Heinrich Böll, Erich
Fried, Günter Grass und Günter Wallraff, Hannes Herr und das Team der
"Wehrmachtsausstellung", die Initiativen "Opferperspektive", "Les Collectifs
des Sans-Papiers" und "Asyl in der Kirche". Im vergangenen Jahr erhielten
die Medaille die Bürgerinitiative "Freie Heide" für ihren Kampf gegen das
Bombenabwurf-Projekt "Bombodrom" der Bundeswehr und NATO in der Küritz-Ruppiner-Heide sowie die Wissenschaftspublizistin Gerit von Leitner.
Die Auszeichnung erinnert an den Publizisten und Friedensnobelpreis-Träger
Carl von Ossietzky, der 1938 an den Folgen seiner KZ-Haft starb.
Die Würdigung aller Preisträger/innen und die Verleihung der Ossietzky-Medaillen findet statt
am Sonntag, 12. Dezember 2004, 11 Uhr, im Haus der Kulturen der Welt, Berlin.
Dr. Rolf Gössner
Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte
www.ilmr.org
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