07.09.04
Es geht um das Handeln der Antigone
Rede von Frau Dr. Luc Jochimsen am 4. September 2004 auf der Mahn- und Gedenkveranstaltung des Arbeitskreises Blumen für Stukenbrock anlässlich
des Antikriegstages auf dem Sowjetischen Soldatenfriedhof in Stukenbrock
Soviel Gedenken in diesen Tagen:
- im Juli Gedenken an das Attentat auf Hitler vor 60 Jahren
- Anfang August Gedenken an den Ausbruch des 1. Weltkrieges vor 90 Jahren
- Am 1. September Gedenken an den Beginn des 2. Weltkrieges, den Beginn
des Überfalls auf Polen vor 65 Jahren
Und jetzt das Gedenken heute hier an das STALAG 326.
Es ist nicht leicht für mich, heute hier zu reden. Warum? Ich war fünf Jahre als, als das Lager 1941 errichtet wurde und neun Jahre alt, als amerikanische Truppen die Gefangenen befreiten. Ich lebte mit meinen
Eltern in Frankfurt am Main, ausgebombt, phosphorverbrannt, von Bombensplittern
verletzt, ein Kellerkind...und kann mich gut an die Apriltage 45 erinnern, an unsere Furcht, dass wir in der brennenden Stadt doch noch zu Tode kämen, dass der Volkssturm den Vater abholen würde, dass die übriggebliebenen versprengten deutschen Soldaten noch ein besonderes Unheil anrichten könnten im letzten
Augenblick.
Und dann die Hoffnungstage nach dem 8. Mai. Während hier in Stukenbrock die geschundenen und halbverhungerten Gefangenen aus einem
Massengräberfeld eine Grabstätte zur Erinnerung an die Toten machten, den Obelisken zeichneten, bauten und feierlich einweihten, machten wir in Frankfurt die
ersten Schritte in eine neue, freie Zeit. Und schworen uns übrigens - wie hier - auch: NIE WIEDER KRIEG! Das war die Botschaft meiner Eltern, später auch
die Botschaft meiner von den Amerikanern überprüften Lehrer. Das war die Botschaft überhaupt des amerikanischen Re-Education-Programms, der
Umerziehung, die ich von Herzen ernst nahm. NIE WIEDER dürfte von deutschem Boden ein Krieg ausgehen und überhaupt: wir wollten kein Militär, keine Wiederbewaffnung. Als friedliche Gesellschaft wollten und sollten wir unsere Zukunft aus den
Trümmern aufbauen.
Wie heißt es in dem Schwur des Stalag 326. Was schworen die Überlebenden
von Stukenbrock, als sie im Juli 45 abzogen?
"Wir werden fleißig arbeiten, um der Heimat zu helfen am schnellsten die Wunden zu heilen, die der Krieg ihr brachte."
Das schworen wir uns in Frankfurt auch. Und: "Wir werden den kommenden Generationen von den Schrecken des Krieges
erzählen und versprechen, gegen jegliche Versuche einen neuen Krieg zu
entfesseln und den Nazismus wiederherzustellen, aktiv zu kämpfen."
Das war meine Überzeugung als junges Mädchen auch - und ist sie geblieben bis zum heutigen Tag. Diese Überzeugung war auch das Motiv für meine spätere Berufswahl. Journalistin wollte ich werden, um die Menschen meiner
Zeit zu informieren, rundum und wahrhaftig, Ursachen aufdeckend, Freiheit beschreibend, Ungerechtigkeit anprangernd, damit niemand jemals wieder
sagen konnte: "Das habe ich alles nicht gewusst; davon hatte ich keine Ahnung".
So hat mich die unmittelbare Nachkriegszeit mit ihren Lehren aus der Zeit der mörderischen Diktatur geprägt. Der Schwur der Gefangenen von Stukenbrock
und mein Lebenscredo stimmten überein: "Zu kämpfen gegen Kriege und jede Form des Faschismus."
Aber wie ging die Geschichte weiter? Die großen Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung zogen durch die Städte - umsonst. Der berüchtigte Politiker-Schwur: "Meine Hand soll
abfallen, wenn ich je für eine neue Armee stimmen sollte" wurde gebrochen.
Der KALTE KRIEG begann.
Und hier in Stukenbrock brauchte es gerade mal zehn Jahre bis sich die
neuen Demokraten daran machten, das Denkmal der Gefangenen für ihre Toten
zu demontieren. Nur der Druck der Alliierten hat damals den totalen Abriss
des Ehrenmals verhindert. Eines Ehrenmals wohlgemerkt, das keineswegs von uns, den mörderischen Tätern in Scham und Reue zur Erinnerung an die Opfer errichtet worden war, sondern von den Opfern, die im Lager überlebt
hatten.
Diese Friedhofsschändung von damals - offiziell und ungeniert - ist bis
heute unbestraft, ungesühnt und vor allem nicht geheilt. Immer noch fehlt dem Obelisken die rote Fahne und dass im Juli 2004 drei der letzten noch
lebenden Gefangenen einen Brief schreiben müssen, in dem sie um die
Wiederherstellung des Denkmals bitten, ist ein Skandal!
Was soll man heute den Schreckenskindern dieser Zeit, wenn sie jüdische Friedhöfe schänden, sagen, was ihnen vorhalten, wenn man an dieses
Beispiel von Stukenbrock denkt?
Im Frühjahr hat Andre` Heller eine Gedenkrede im ehemaligen KZ Mauthausen gehalten. Und er sagte: "Die Grundlage für Mauthausen war: die Duckmäuserei, der Opportunismus, die Gewinnsucht, der Mangel an Zivilcourage, die Bigotterie, die Verlogenheit, die Missgunst - kurz gesagt, der Mangel an menschlicher
Qualität einer Mehrheit. Diese moralische und geistige Katastrophe war die Stabilitätsgrundlage der infernalischen Regentschaft des
Nationalsozialismus. Deshalb muss man sich immer und überall um den geistigen Generalzustand kümmern, im dem eine Bevölkerung sich befindet." Diese Definition der Grundlagen trifft auch für STALAG 326 zu - und
deswegen ist auch die Aufforderung so wichtig, sich "immer und überall um
den geistigen Generalszustand der Bevölkerung zu kümmern", die uns umgibt. Wie steht es denn um Anstand und Mitgefühl hier in Stukenbrock fast 60 Jahre
nach der Befreiung des Lagers? Seit Jahrzehnten gibt es die Initiative mit dem
doppelsinnigen Namen BLUMEN FÜR STUKENBROCK . ..."Sie brachten Blumen und gedachten ihrer Toten" heißt es in den
Augenzeugenberichten der Gefangenen, die 1988 dokumentiert worden sind.
Das ist das Vermächtnis der Initiative und dieses Gedenkens, das sich aber mit dem Erinnern allein nicht begnügen will, sondern aus dem Erinnern heraus seine Position gegen den Krieg bezieht. Das ist ehrenhaft. Nur
wirksam kann die Haltung dieser Initiative nur werden, wenn es der "geistige Generalzustand der Bevölkerung" zulässt. Deshalb ist es so schwierig für
mich hier zu reden. Wenn ich zurückdenke an die Zeit, derer wir hier gedenken, dann fällt mir auf, wie sehr sich der geistige Generalzustand verändert hat, was die Haltung zu Krieg und militärischen Einsätzen betrifft. Lassen wir uns
nicht von der Ablehnung des Irak-Krieges blenden, solange so gut wie keiner widerspricht, dass wir angeblich unsere Freiheit am Hindukusch
verteidigen, und dass unsere Soldaten seit jetzt fünf Jahren auf dem Balkan stationiert sind - und kein Weg zurück angekündigt wird. Im Gegenteil - immer mehr, immer länger "engagieren" wir uns da - und kein massiver Widerstand setzt
hierzulande dagegen ein. Darum geht es doch an einem Tag wie heute, bei einem
Gedenken wie diesem.
Reden wir also über "unseren Krieg" in Afghanistan !
Hinter dem Vorhang "Nicht-im-Irak-Krieg-dabei" wird der Umbau der Bundeswehr vollzogen; von einer Verteidigungsarmee in eine Einsatztruppe,
die global operiert. Ganz offen kann der Verteidigungsminister erklären, dass wir ja "nur Freunde um uns herum haben" und deshalb nicht mehr mit einem Angriff auf
unser Land zu rechnen hätten. Und deshalb - seltsame Logik - schicken wir immer mehr Soldaten nach Afghanistan und zwar nicht nur nach Kabul, sondern auch in den Norden und Westen des Landes - und dies ziemlich allein, denn alle anderen Koalitions-Regierungen, die sich für diesen Krieg zusammengetan
haben, lehnen es ab, sich auf die Aktionen einzulassen.
Wir verteidigen also Deutschland am Hindukusch und während wir das tun mischen wir uns in den weltweit größten Mohn-Anbau dort nicht ein. Sehen
von Jahr zu Jahr wie Drogenanbau und Drogenhandel florieren, der ganz gezielt für Europa gedacht ist. Welch eine Perversion! Hier wird Drogenkonsum, Weitergabe von Drogen an Dritte und Drogenhandel bestraft - in Afghanistan
wird angebaut und geerntet unter den Augen unserer Soldaten! Und das von Jahr
zu Jahr in größerem Umfang!
Wer sich gegen den Krieg stellt, darf doch auch diese Tatsache
nicht länger unwidersprochen mit ansehen! Jeden Tag müssten wir die
Abgeordneten der Regierungs-Koalition zu Stellungnahmen und Antworten auf die Frage
auffordern, wie lange dieser Skandal noch andauern soll.
Warum bin ich soweit zurückgegangen in die Geschichte dieses Gedenkens und in die Geschichte meiner Nachkriegskindheit? Um den Prozess noch einmal deutlich zu machen, den wir in Sachen Krieg durchlaufen haben. Nachdem die frühen Kämpfe gegen die Wiederbewaffnung verloren waren, hatten wir auf die Verfassung gesetzt und der Verteidigung
als alleiniger Aufgabe der Bundeswehr zugestimmt - Verteidigung in unseren Grenzen. Noch im ersten Golfkrieg hat dieser Verfassungsgrundsatz
gehalten.
Obwohl man sich schon damals fragen musste, ob das Geld von uns für
Soldaten anderer Länder nicht doch einer Beteiligung an diesem Krieg entsprochen
hat. Aus heutiger Sicht erscheint diese Haltung wie eine Vorstufe zu unserer
dann immer weiterreichenden Verstrickung in militärisches Handeln.
"Stell dir vor, es ist schon jahrelang Krieg und niemand stört das mehr!"
- so ist das doch heute. Dagegen müssen wir angehen! Auch diskutieren, was die Verbindung von Krieg und Drogen in Afghanistan in unserem Lande anrichtet. Ich kann nur noch einmal die Frage stellen: Wie lange nehmen
wir das bigotte Getue um Drogenkonsum hin, ganze Prozesse zum Straftatbestand ob jemand einer Prostituierten eine Prise angeboten hat oder nicht, wenn
unsere Soldaten die Produktion des Stoffes schützen und die Produzenten dazu!
Der Lügen-Krieg im Irak, an dem wir nicht beteiligt sind, lenkt uns
ab von dem Krieg, in dem wir sogar mit Stolz das stärkste Truppenkontingent
stellen, während sich die anderen Koalitionäre immer mehr zurückziehen.
Was sind die Lehren, die unser Zusammenkommen heute hier ermöglichen
könnte?
Erstens: Wir müssen die Kriege, die wir führen, auf dem Balkan wie in Afghanistan deutlicher, lauter, unnachgiebiger anprangern - gegen die
weiteren Verlängerungen der Mandate politisch Einspruch erheben. Der Busch-Krieg im Irak - das ist die eine Sache, aber die deutschen Soldaten auf dem Balkan und am Hindukusch sind unsere Angelegenheit. Dagegen ist Position zu
beziehen, bei Wahlen, in den politischen Diskussionen!
Zweitens: Wir müssen endlich Anstand und Mitgefühl denen zukommen lassen, die hier im STALAG 326 geschunden und gequält wurden. Das heißt ganz konkret: Der Obelisk muss wiederhergestellt werden. Vielleicht spenden wir
ja heute so viel, dass die Glasplastik mit der roten Fahne rekonstruiert
werden kann. Und dann möchte ich das Denkmalschutzamt oder die Behörde von NRW sehen, die den letzten Überlebenden in die Hand fällt, wenn sie im April
2005, dem 60. Jahrestag der Befreiung des Lagers, das Denkmal in seiner ursprünglichen Form enthüllen. Dann bekäme die jahrzehntelange Arbeit von
BLUMEN FÜR STUKENBROCK noch einmal einen besonderen Sinn.
Es geht um den uralten menschlichen Respekt vor den Opfern - aus Anstand
und Mitgefühl - jener menschlichen Qualität, die wir in der nationalsozialistischen Diktatur völlig verloren hatten - und die
wiedergewonnen zu haben wir immer wieder beweisen müssen, gerade uns selbst gegenüber.
Es geht um das Handeln der Antigone. Bertolt Brecht hat es so beschrieben:
"Ich weiß /
Wie du den Tod gefürchtet hast / aber
Mehr noch fürchtetest du
Unwürdig Leben.
Und ließest den Mächtigen
Nicht durch / und glichst dich
Mit den Verwirrern nicht aus / noch je
Vergaßest du Schimpf / und über der Untat wuchs
Ihnen kein Gras.
Salut!"
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